Zusammenfassung
„Diderot ist Diderot, ein einzig Individuum; wer an ihm oder seinen Sachen mäkelt, ist ein Philister“1 — mit diesen Worten verbeugt sich Goethe am Ende seines Lebens noch einmal tief vor dem französischen Philosophen. Sein Lob darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Bewunderung für Diderot bei ihm wie bei den meisten Deutschen stets auf Grenzen gestoßen war. So wurde Diderot zwar von Lessing, Schiller und Goethe übersetzt, ein starkes Echo aber hat sein Werk in der deutschen Literatur nie gefunden. Anders als Rousseau, dessen Zivilisationskritik im Sturm und Drang programmatisch aufgenommen wurde, und anders auch als Voltaire, den der radikale Kampf gegen den Klerus zur Leitfigur der Aufklärung machte, blieb Diderot ein eher rätselhafter Denker. Seine antidogmatische Dialogizität und Offenheit, seine reflexive Gebrochenheit und experimentelle Freude am paradoxen Gedankenspiel boten für eine systematisierende oder gar programmatisch zuspitzende Rezeption keinerlei Anhaltspunkt. Es gibt einen Rousseauismus, aber keinen Diderotismus.
Preview
Unable to display preview. Download preview PDF.
Notizen
Roland Mortier: Diderot in Deutschland 1750–1850. Stuttgart 1967, S. 209.
Vgl. dazu Anne Saada: Diderot und der Sturrm und Drang. In: Stunn und Drang. Geistiger Aufbruch 1770–1790 im Spiegel der Literatur. Hrsg. von Bodo Plachta u. Winfried Woesler. Tübingen 1997, S. 23–39.
Vgl. dagegen Konrad Rahe, der Die Braut von Korinth als Hypertext von Diderots Roman La Religieuse deutet: „Als noch Venus’ heitrer Tempel stand“. Heidnische Antike und christliches Abendland in Goethes Ballade „Die Braut von Corinth“. In: Antike und Abendland 44 (1999), S. 129–164; bes. S. 130 ff.
Zur paradoxalen Struktur des Paradoxe sur le comédien vgl. Johannes F. Lehmann: Der Blick durch die Wand. Zur Geschichte des Theaterzuschauers und des Visuellen bei Diderot und Lessing. Freiburg i. Br. 2000, S. 229–247.
Vgl. dazu Paul Geyer: Zur Dialektik des Paradoxen in der französischen Moralistik: Montazgnes „Essais“ — La Rochefoucaulds „Maximes“ — Diderots „Neveu de Rameau“. In: ders./Roland Hagenbüchle: Das Paradox. Eine Herausforderung des abendländischen Denkens. Tübingen 1992, S. 385–408.
Roland Galle: Diderot — oder die Dialogisierung der Aufklärung. In: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft. Bd. 13. Hrsg. von Jürgen von Stackelberg. Wiesbaden 1980, S. 209–248. Zu Diderots dialogischem Verfahren vgl. auch die glänzende Studie von Colas Duflo: Pourquoi des dialogues en des temps des systèmes? In: Diderot-Studies (28) 2000, S. 96–109.
Vgl. dazu Hans Sckommodau: Thematik des Paradoxes in der Aufklärung. Wiesbaden 1972, S. 68. Die meisten Belege für „paradox“ in Goethes Werk (nach elektronischer Recherche 49 Belegstellen in der WA) lassen einen pejorativen Wortgebrauch erkennen. Danach bezeichnet Goethe das Unbestimmte, Unbegründete und Übereilte als „paradox“ und rückt es in Opposition zum Gründlichen und „Würdigen“. Vgl. z. B. die Tag- und Jahreshefte zu 1801 (WA I, 35, S. 99), die Rezension der Principes de philosophie zoologique (WA II, 7, S. 171); die Anmerkungen zum Neveu de Rameau: „Damit wir aber […] nicht unbestimmt und dabei paradox erscheinen“ (WA I, 45, S. 173); „[Rousseau], der sich zu jener Zeit, zwar paradox aber doch würdig genug, angekündigt hatte“ (ebd., S. 188); das Urteil über den englischen Physiker Robert Hooke in der Farbenlehre: „Hooke ist geistreich, aber [!] paradox“ (WA II, 4, S. 401), sowie den Brief an Zelter vom 27. 7.1827: „Die lieben Deutschen glauben nur Geist zu haben, wenn sie paradox, d. h. ungerecht sind“ (WA IV, 44, S. 229).
Zu den Kontroversen um Diderots Neveu vgl. den Forschungsbericht von David J. Adams: „Le Neveu de Rameau“ since 1950. In: Studies on Voltaire and the eighteenth century [Bd.] 217 (1983), S. 371–387.
Helene Harth: Der Aufklärer und sein Schatten. Zynismus im „Neveu de Rameau“. In: Denis Diderot. 1713–1784. Zeit — Werk — Wirkung. Zehn Beiträge. Hrsg. von Titus Heydenreich u. a. Erlangen 1984, S. 95–105; hier S. 97.
Denis Diderot: La Religieuse. Texte établi et présenté par Robert Mauzi. Paris 1972, S. 196 u. 361.
Editor information
Rights and permissions
Copyright information
© 2002 Springer-Verlag GmbH Deutschland
About this chapter
Cite this chapter
Hildebrand, O. (2002). Im „Irrgarten“ der Paradoxien. In: Golz, J., Leistner, B., Zehm, E. (eds) Goethe-Jahrbuch. Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger Weimar, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02861-7_9
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-02861-7_9
Published:
Publisher Name: Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger Weimar, Stuttgart
Print ISBN: 978-3-7400-1195-6
Online ISBN: 978-3-476-02861-7
eBook Packages: J.B. Metzler Humanities (German Language)