Zusammenfassung
Als Goethe in den Kriegswirren der Jahre 1806 und 1807 seine Ideen zur organischen Bildung und zur Morphologie veröffentlichen wollte, umriß er — in dem erst zehn Jahre später als Einleitung in die morphologischen Hefte gedruckten Aufsatz Das Unternehmen wird entschuldigt— das Ideal einer Theorie hermeneutischen Erfahrens und Verstehens, die auf einen Ausgleich zwischen der Macht des sich unbedingt fühlenden Subjekts über die Gegenstände und der von den Gegenständen ausgehenden Gegenmacht abzielt und die Extreme des Idealismus wie des Realismus zu vermeiden sucht. Begreift sich der Mensch als Teil der schaffenden und in stetem Wandel befindlichen Natur, eröffnet sich ihm eine unendliche Bahn der Welt- und Selbsterkenntnis:
Kaum überzeugt er sich von diesem wechselseitigen Einfluß, so wird er ein doppelt Unendliches gewahr, an den Gegenständen die Mannigfaltigkeit des Seins und Werdens und der sich lebendig durchkreuzenden Verhältnisse, an sich selbst aber die Möglichkeit einer unendlichen Ausbildung, indem er seine Empfänglichkeit sowohl als sein Urteil immer zu neuen Formen des Aufnehmens und Gegenwirkens geschickt macht. (HA 13, S. 53)1
Goethe entschuldigt, d. h. begriindet mit dieser methodologischen Maxime sein naturwissenschaftliches Verfahren einer vergleichenden Morphologie, die die Zeichen der Natur zu lesen weiß, doch das Gesetz der wechselseitigen, unabschließbaren, ins Unendliche tendierenden Interaktion von Subjekt und Objekt verbindet die Wissenschaft mit der Dichtung, so wie dem Sein und Werden der Natur, ihren lebendigen Bildungen das Analogon des menschlichen Bildungstriebs in Kunst und Wissenschaft entspricht.
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Notizen
Hans Blumenberg: Auf glühendem, ernstem Wege. Wozu noch einmal Goethe? In: FAZ, 8. 5.1999.
Nicholas Boyle: Goethe. Der Dichter in seiner Zeit. Bd. I: 1749–1790. Aus dem Engl. übers. von Holger Fliessbach. München 1995, S. 115–270.
Peter Pütz: Die deutsche Aufklärung. Darmstadt 1978, S. 11.
L. Achim von Arnim/Clemens Brentano: Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder. Darmstadt 1991, S. 735. — Das Gedicht umfaßt insgesamt elf Strophen.
Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: was ist Aufklärung? In: ders. (Anm. 8), Bd. 9, S. 53. — Das auf Horaz (Epist. I, 2, 40) zurückgehende Motto „Sapere aude!“, das sich die Aufklärung als Devise wählte, erscheint im deutschen Sprachraum zuerst als Umschrift einer Gedächtnismünze, die die Gesellschaft der Alethophilen in Leipzig 1740 prägen ließ. Die Vorderseite der Münze zeigt als emblematisches Motiv das Bild der Minerva, in deren Helm Reliefs von Leibniz und Wolff als den philosophischen Vorbildern der Alethophilen eingefügt sind. Der Entwurf zu dieser Medaille stammt — wie der Leipziger Historiker Detlef Döring herausgefunden hat (ders.: Beiträge zur Geschichte der Gesellschaft der Alethophilen in Leipzig. In: ders./Kurt Nowak [Hrsg.]: Gelehrte Gesellschaften im mitteldeutschen Raum, 1650–1820. Teil I. Stuttgart u. Leipzig 2000, S. 126 ff.) — von dem radikalen Frühaufklärer Johann Georg Wachter (1663–1757), der eine Übereinstimmung von Kabbala und Spinozismus vertrat (vgl. dazu Gershom Scholem: Die Wachtersche Kontroverse über den Spinozismus und ihre Folgen. In: Spinoza in der Frirhzeit seiner religiösen Wirkung. Hrsg. von Karlfried Gründer u. Wilhelm Schmidt-Biggemann. Heidelberg 1984, S. 15–25; Johann Gottfried Herder: Gott. Einige Gespräche. In: ders.: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774–1787. Hrsg. von Jürgen Brummack u. Martin Bollacher. Frankfurt/M. 1994, S. 758 f.). Kant löste den Wahlspruch aus seinem Wolffianischen Kontext und machte ihn zur Devise des traditionsunabhängigen Selbstdenkens. Zur Spurenlese des „Sapere aude“-Mottos vgl. auch Martin Mulsow: „Erkühne dich, vernünftig zu sein. “Auf den Spuren der Leipziger „Alethophilen“: Zur Herkunft des Wahlspruchs der Aufklärung. In: FAZ 86, 11.4.2001, S. N 6.
Johann Christian August Heinroth: Lehrbuch der Anthrnpologie. Zum Behuf academischer Vorträge, und zum Privatstudium. Nebst einem Anhange erläuternder und beweisführender Aufsätze. Leipzig 1822, S. 387.
Ebd., S. 387f.
Hans Dietrich Irmscher in: Johann Gottfried Herder: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Stuttgart 1990, S. 151.
Vgl. z. B. Christian Thomasius: Deutsche Schriften. Ausgew. u. hrsg. von Peter von Düftel. Stuttgart 1970, S. 36. — Auch der junge Lessing zielt in seinem Lustspiel Die Juden auf die Zerstörung des — antisemitischen — Vorurteils. So hält er dem Einwand des Göttinger Orientalisten Johann David Michaelis, der Charakter des jüdischen Reisenden sei unwahrscheinlich, folgende Argumentation entgegen: „Man sage mir, ist es also nun noch wahr, daß sich mein Jude hätte selbst bilden müssen? Besteht man aber darauf, daß Reichtum, bessere Erfahrung und ein aufgeklärterer Verstand nur bei einem Juden keine Wirkung haben könnten: so muß ich sagen, daß dieses eben das Vorurteil ist, welches ich durch mein Lustspiel zu schwächen gesucht habe; ein Vorurteil, das nur aus Stolz oder Haß fließen kann und die Juden nicht bloß zu rohen Menschen macht, sondern sie in der Tat weit unter die Menschheit setzt. Ist dieses Vorurteil nun bei meinen Glaubensgenossen unüberwindlich, so darf ich mir nicht schmeicheln, daß man mein Stück jemals mit Vergnügen sehen werde“ (Lessings Werke. 3 Bde. Hrsg. von Kurt Wölfel. Bd. 1. Frankfurt/M. 1967, S. 639).
John Locke: Ein Brief üher Toleranz. Übers., eingel. u. in Anm. erl. von Julius Ebbinghaus. Englisch-deutsch. Hamburg 1966, S. 3. — Ebbinghaus betont jedoch den paradoxen Tatbestand, daß Locke die Atheisten von der Toleranz ausschließt bzw. das Recht des Menschen von seinem Glauben an Gottes Existenz abhängig macht (S. LXIII).
Vgl. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt/M. 1969, S. 10: „Macht und Erkenntnis sind synonym“. — Norbert Hinske betont zwar zu Recht die Differenz zwischen dem historischen Selbstverständnis der Aufklärung und der geschichtsphilosophischen Perspektive Horkheimers und Adornos, aber neben „beliebig verwendbaren Leerformeln“ (ders. [Anm. 13], S. XIV) erinnert die Dialektik der Aufklärung eben auch an die selbstzerstörerische Tendenz eines unifizierenden, herrschsüchtigen Rationalismus.
Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung. Tübingen 1932, S. VIII.
Ebd., S. XII.
G. W. F. Hegel: Werke in 20 Bdn. Theorie-Werkausgabe. Bd. 20. Frankturr/M. 1971, S. 65. — Dem in der unabhängigen, freien Subjektivität gründenden Selbstbewußtsein zollt Hegel durchaus Respekt, und nur die auf die Endlichkeit und das Empirische reduzierte Vernunft verwirft er als „Aufldärerei“ — so etwa in dem von 1802 stammenden Aufsatz Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie. In: ebd., Bd. 2, S. 287–433; insbes. S. 292 ff.
Heinrich Heine: Werke in 4 Bdn. Bd. 4. Frankfurt/M. 1968, S. 100.
Alfred Anger: Rokokodichtung und Anakreontik. In: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft. Hrsg. von Klaus von See. Europäische Aufkläiung I. Hrsg. von Walter Hinck. Frankfurt/M. 1974, S. 108.
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Bollacher, M. (2002). Aufklärungspositionen des jungen Goethe. In: Golz, J., Leistner, B., Zehm, E. (eds) Goethe-Jahrbuch. Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger Weimar, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02861-7_13
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