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Bergbesteigung/Hadesfahrt. Topik und Symbolik der „Harzreise im Winter“

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Goethe-Jahrbuch
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Zusammenfassung

Die Hymne Harzreise im Winter (1777, Erstdruck: 1789) gilt als einer der schwierigsten Texte Goethes.1 — Und dies nicht erst seit Albrecht Schöne, den ich mit dieser Eröffnung zitiere.2 Goethe selbst hat bekanntlich in seinem späten Selbstkommentar, der sogenannten Kannegießer-Rezension von 1821,3 dieses Gedicht ein „sehr schwer“ zu entwickelndes genannt (HA 1, S. 393) und mit entsprechenden Kautelen von „wunderlich“ bis „bizarr“ und „mysterios“ nicht gespart (S. 392, 393, 399): im „besondern“ („Reellen“) der darin geschilderten Reise stecke ein „Allgemeines“ („Ideelles“) (S. 393, 399). Damit war das Gedicht als ein ,symbolischer‘ Text im Sinne des Symbolkonzepts der Maximen und Reflexionen (HA 12, S. 470 f., Nr. 749–752) markiert, ja mehr noch, als ein Rätsel. Zwar scheint zu dessen Auflösung Goethe in genannter Rezension freigiebig bereit, doch gibt er dort dem Leser zugleich neue Rätsel auf. Wie in vergleichbaren Fällen auktorialer Rezeptionssteuerung stellt sich auch hier die Frage nach Absicht, Strategie und Verbindlichkeit solcher Kommentierung eigener Werke. Doch so oder so, mit dieser Selbstauslegung lag der Handschuh im Ring, und die Goethe-Philologie war eingeladen, ilm aufzuheben. Sie ließ sich freilich Zeit damit. Das goldene Zeitalter der Harzreise-Deutungen kam erst spät, in den siebziger und achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts, mit den grundlegenden Beiträgen von Heinrich Henel, Albrecht Schöne, Jochen Schmidt, auch David Wellbery und Klaus Weimar.4 Wer heute das Gedicht zu deuten sich anschickt, darf angesichts dessen die Ambition, wieder einmal das Rad neu erfinden zu wollen, getrost begraben. Philologie ist ein Fach, in der all7u steiles Innovationspathos schnell Gefahr läuft, in Attitüden der Unbescheidenheit umzuschlagen, die den Leser nur ermüden. Das Neue kommt auf leisen Sohlen, und meistens stellt sich seine Neuheit erst post festum und im Rückblick heraus. So versteht sich dieser Beitrag vor allem als eine Einladung, die Meisterstücke älterer Goethe-Philologie einmal wieder und mit frischem Blick zu lesen.

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Notizen

  1. Albrecht Schöne: Götterzeichen: „Harzreise im Winter“. In: ders.: Götterzeichen, Liebeszauber, Satanskult. Neue Einblicke in alte Goethetexte. München 1982 (3., ergänzte Aufl. 1993), S. 13–52; hier S. 15 (erstmals erschienen u. d. T. Auguralsymbolik in: GJb 1979, S. 22–53). — An Schönes Befunde zur auguralen Sinnschicht des Gedichts werde ich im späteren Verlauf meiner Überlegungen anknüpfen.

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  2. Heinrich Henel: Der Wanderer in der Not: Goethes „Wandren Stunnlied“ und „Harzreise im Winter“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 47 (1973), S. 69–94; auch in: ders.: Goethezeit. Frankfurt a. M. 1980, S. 76–101; Schöne (Anm. 2); Jochen Schmidt: Goethes Bestimmung der dichterischen Existenz im Übergang zur Klassik: „Harzreise im Winter“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 57 (1983), S. 613–635; gekürzt auch in: ders.: Die Geschichte des Geniegedankens. 2 Bde. Darmstadt 1985, Bd. 1, S. 282–309; David E. Wellbery/Klaus Weimar: Johann Wolfgang von Goethe: „Harzreise im Winter“. Eine Deutungskontroverse. Paderborn 1984; Wellberys Beitrag erweitert wieder in: ders.: The Specular Moment. Goethe’s Early Lyrics and the Beginnings of Romanticirm. Stanford/Cal. 1996, S. 346–401. — Die Quintessenz dieser Diskussionen fand Eingang in die Kommentare der Münchner und der Frankfurter Ausgabe sowie des Goethe-Handbuchs; vgl. MA 2.1, S. 563–568 (Hartmut Reinhardt); FA I, 1, S. 1035–1044 (Karl Eibl); Goethe-Handbuch, Bd. 1, S. 159–163 (Bernd Leistner), dort weitere Literatur.

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  3. Die Begriffe nach Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthrapologae. Frankfurt a. M. 1991.

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  4. Der hier und später verwendete (und an sich aus gänzlich anderen Zusammenhängen geborgte) Begriff der „verdeckten Schreibweise“ nach Erwin Rotermund; vgl. zuletzt Heidrun Ehrke-Rotermund/Erwin Rotermund: Zwischenreiche und Gegenwelten. Texte und Vorstudien zur „ Verdeckten Schreibweise“ im „Dritten Reich“. München 1999, S. 16–24: Einführung in die Poetik, Rhetorik und Hermeneutik der „Verdeckten Schreibweise“.

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  5. Vgl. zu diesem Topos, um nur einen Hinweis zu geben, das berühmte Buch von Erwin Panofsky: Hercules am Scheidewege und andere antike Bildstoffe in der neueren Kunst (1930). Mit einem Nachwort zur Neuauflage von Dieter Wuttke. Berlin 1997.

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  6. Hierzu immer noch Andreas B. Wachsmuth: Geeinte Zwienatur. Berlin, Weimar 1966; bes. S. 86 bis 139; Rolf Christian Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe. 2 Bde. München 1969–1979, mit Blick auf die Harzreise und Plessing Bd. 2, S. 233; vgl. speziell hierzu die Schilderung des Plessingbesuchs in der Campagne in Frankreich: „eigens-beschränkte Selbstigkeit“, „alle seine Kraft und Neigung aber nach innen gewendet“ und dadurch „zugrunde gerichtet“ u. ä. (HA 10, S. 331).

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  7. Zu dieser poetischen Technik grundlegend Dirnitri Tschishewskij: Umkehrungen der dichterischen Metaphem, Topoi und anderer Stilmittel. In: Welt der Slaven 6 (1961), S. 337–354.

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  8. Klar ausgesprochen wird diese Inversion im Brief an Charlotte von Stein vom 10./11. Dezember (WA IV, 3, S. 200): „[…] ich war oben heut und habe auf des Teufels Altar meinem Gott den liebsten Danck geopfert“. — Zur angesprochenen Gipfeltopik und ihrer Geschichte: Jacek Wozniakowski: Die Wildnis. Zur Deutungsgeschichte des Berges in der europäischen Neuzeit. Frankfurt a. M. 1987, bes. S. 71 ff.; Wolfgang Riedel: Der Blick vom Mont Ventoux. Zur Geschichtlichkeit der Landschaftwashmebmung bei Petrarca. In: Jb. Selbstorganisation 10 (1999), S. 123–152; hier S. 127–130, II: Gute Berge/Schlechte Berge.

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  9. Vgl. Publius Ovidius Naso: Briefe aus der Uerbannung: TristiaEpistulae ex Ponto. Lat.-dt. übertragen von Wilhelm Willige. Eingeleitet u. erläutert von Niklas Holzberg. Zürich 1995. Die bekanntesten Winterstücke sind etwa Tristia lII, 2 (S. 114 f.); III, 4 b (S. 128 f.); III,10 (S. 148 ff.); III, 12 (S. 160 ff.); sowie Epistulae IV, 10 (S. 518 ff.). — Zu Ovids Schwarzmeer-Dichtung und ihrer Poetik resümierend zuletzt Niklas Holzberg: Ovid Dichter und Werk. München 1997, S. 181 bis 202: Exil als verkehrte elegische Welt.

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  10. Dazu ebd. — Das Properz-Zitat nach Sextus Propertius: Sämtliche Gedichte. Lat.-dt. hrsg. von Burkhard Mojsisch u. a. Stuttgart 1993, S. 52. Opitz hatte diese Elegie ins Deutsche übersetzt: Martin Opitz: Weltliche Poemata (1644). Hrsg. von Erich Trunz u. a. Bd. 2. Tübingen 1975, S. 304 f.: Echo oder Wiederschall.

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  11. Jean-Jacques Rousseau: Julie oder die neue Héloise. Hrsg. von Reinhold Wolf. München 1979, S. 89 (Kap. I, 26).

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  12. Nur nebenbei bemerkt: C. G. Jungs Begriff des „Schattens“, der all das umfaßt, was das Ich „nicht sein möchte“, bezeichnet recht gut, was Werther für Goethe war. Vgl. Andrew Samuels u. a.: Wörterbuch Iungscher Psychologie. München 1991, S. 191–193: Schatten.

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Werner Frick Jochen Golz Edith Zehm

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Riedel, W. (2004). Bergbesteigung/Hadesfahrt. Topik und Symbolik der „Harzreise im Winter“. In: Frick, W., Golz, J., Zehm, E. (eds) Goethe-Jahrbuch. Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger Weimar, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02860-0_8

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-02860-0_8

  • Publisher Name: Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger Weimar, Stuttgart

  • Print ISBN: 978-3-7400-1209-0

  • Online ISBN: 978-3-476-02860-0

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