Zusammenfassung
Noch immer stellt sich, wenn das Stichwort „Goethe und Böhmen“ fällt, am ehesten die Assoziation der Badereisen ein, und diese wiederum evoziert meist die Vorstellung einer biedermeierlichen Welt, wie sie die von Sigrid Canz präsentierten Bilder-Suiten1 oder Umschlag und Einband des von Jörn Göres 1982 herausgegebenen Katalogbandes zur Ausstellung Goethes Badeaufenthalte 1785–1823 2 zeigen: Vor der Kulisse einer herrlich leuchtenden Natur und repräsentativen Brunnen-Architektur bewegt sich in verordnetem Schlendrian eine a la mode gekleidete, scheinbar leidlose Gesellschaft, geeint durch das Requisit des Sprudelbechers. Die Tendenz zum darstellerischen Realismus scheint über die Wiedergabe einiger genrehafter, meist komischer Szenen, die auf die Heterogenität des Badepublikums verweisen, nicht hinauszugehen. Dieses im Hinblick auf Goethes böhmische Reisen unzutreffende, weil anachronistische und einseitige Bild versuchen die folgenden Ausführungen durch ein realistischeres zu ersetzen. Es soll der Illusion entgegengewirkt werden, daß Goethe auf seinen Reisen nach Böhmen in eine gleichsam phäakische Sonderwelt eingetreten und in ihr selber, wie es offenbar auch der postume tschechische Goethe-Denkmal-Kult will und suggeriert3, temporär zum ,Phäaken‘ mutiert sei.4 Im Gegenzug wird hier, wie dies ja in vielen Publikationen bereits geschehen ist5 und nur allgemein noch zu wenig wahrgenommen wird, auf die vielfältigen Bemühungen hingewiesen, durch die Goethe sich reelle Kenntnisse über Böhmen erworben hat,6 auch über die letzte seiner siebzehn Reisen (1823) hinaus, wobei die erschließende Kraft seines zunehmend methodischen Vorgehens, aber auch einige Grenzen seiner Hermeneutik sichtbar werden sollen.
Vortrag in der Arbeitsgruppe Goethe in Böhmen.
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Notizen
Sigrid Canz: Die böhmischen Bäder. Bilder aus dem Biedermeier. Dortmund 1982.
Siehe den von August Sauer hrsg. Briefwechsel zwischen Johann Wolfgang von Goethe und Kaspar Graf von Stemberg. Prag 1902; ferner das Kapitel Kaspar Sternberg in Urzidil (Anm. 5), S. 439–448.
1817, durch Joseph Müllers Tod veranlaßt, gedenkt Goethe in den mit Carlsbad überschriebenen Erinnerungen, die er der überarbeiteten Version seiner erstmals 1806/1807 veröffentlichten Abhandlung Joseph Müllerische Sammlung voranstellt, der ersten Begegnung (1806) und der folgenden langjährigen Zusammenarbeit mit dem „auf das treufleißigste behülflich[en]“ Steinschneider (in: Zur Naturwissenschaft überhaupt I, 1; MA 12, S. 413 f.; die Beschreibung der Sammlung ebd., S. 413–430; siehe auch S. 621–623); ferner: Urziclil (Anm. 5), S. 402–410, und Richard W. Eichler: „Hier bin ich Mensch …“. Goethe unter schlichten Menschen, skizziert am Umgang mit Joseph Müller, seinem Begleiter im Erzgebirge. In: Goethe in Olmütz (Anm. 5), S. 28–42.
August Sauer (Hrsg.): Goethe und Österreich. Briefe mit Erläuterungen. 2 Teile. Weimar 1902 und 1904 (= SchrGG 17 u. 18).
Friedrich Wilhelm Riemer: Mittheilungen über Goethe. Bd. 1. Berlin 1841, S. 390/395; siehe auch Urzidil (Anm. 5), S. 215–222 (Zu den böhmischen Landschaftsblättern).
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Michel, C. (2004). „ein Kontinent mitten im Kontinente“ — Goethe in Böhmen. In: Frick, W., Golz, J., Zehm, E. (eds) Goethe-Jahrbuch. Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger Weimar, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02860-0_12
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