Zusammenfassung
Die Figur des spukenden Chinesen, von Fontane selbst zum “Dreh- und Angelpunkt” des Romanes erklärt, macht Effi Briest zu einem der prominentesten Beispiele eines fantastischen Realismus im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert.1 Im Chinesen verknüpfen sich unterschiedliche Erzählfäden, die einen Zusammenhang von Einbildungskraft, Angst und Unterwerfung bilden: Zum ersten betrifft dies die Unterwerfung des Selbst unter das Phantasma der Ehre. Auch Instetten sieht am Ende seine Handlungen aus einer reinen “Vorstellung, einem Begriff hervorgehen (vgl. 436).2 Er erscheint nur mehr als Agent des “Gesellschafts-Etwas”, nicht mehr als das souveräne Subjekt seiner Handlungen. Zum zweiten handelt es sich um die imperialistische Unterwerfung, die im Motiv des Chinesen eine Dämonisierung des Fremden beschreibt, zum dritten um die Unterwerfung des anderen Geschlechtes durch den “Angstapparat aus Kalkül”. An diesem wirkt nicht nur Instetten mit, sondern auch Crampas, insbesondere, was die Bevorzugung fantastischer Motive bei seiner Lektüreauswahl betrifft.3
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Literatur
Der Chinese hat zu einer Reihe unterschiedlicher Deutungen eingeladen, die allerdings gewöhnlich nicht zum Ziel haben, Realismus und Fantastik begrifflich zu konfrontieren oder zusammenzuführen.Lit/Chinese Vgl. Ulrike Rainer, “Effi Briest und das Motiv des Chinesen. Rolle und Darstellung in Fontanes Roman”, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 101 (1982), S. 545–561;
Ingrid Schuster, “Exotik als Chiffre. Zum Chinesen in Effi Briest”, in: Wirkendes Wort 33 (1983), S. 115–125;
Peter Utz, “Effi Briest, der Chinese und der Imperialismus. Eine ‘Geschichte’ im geschichtlichen Kontext”, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 103 (1984), S. 212–225.
Alle Zitate aus: Theodor Fontane, Werke in fünf Bänden, III., hrsg. v. Rainer Bachmann und Peter Bramböck, Nymphenburger Verlagshandlung, München 1974.
Erwin Kobel, “Die Angst der Effi Briest. Zur möglichen Kierkegaard-Rezeption Fontanes”, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 47 (1994), S. 255–288.
Vgl. Jürgen Manthey, Wenn Blicke zeugen könnten. Eine psychohistorische Studie über das Sehen in Literatur und Philosophie, München Wien 1983, S. 11 f.
Vgl. Jonathon Culler, Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie, Reinbek 1988.
Vgl. Sabina Brändli, “Von ‘schneidigen Offizieren’ und ‘Militärcrinolinen’: Aspekte symbolischer Männlichkeit am Beispiel preußischer und schweizerischer Uniformen des 19. Jahrhunderts”, in: Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. v. Ute Frevert, Stuttgart 1997, S. 201–228, S. 226.
Vgl. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Band I, Arbeitsweit und Bürgergeist, München 1994, S. 47. f
Als solchen identifiziert Heide Rohse den geschlechtlichen Widerspruch in Effi Briest. Vgl. Heide Rohse, “‘Arme Effi’. Widersprüche geschlechtlicher Identität in Fontanes Effi Briest”, in: Freiburger Literaturpsychologische Gespräche. Bd. 17. Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse, hrsg. v. Johannes Crimerius u.a., Freiburg 1998, S. 203–216, S. 207.
Mit dem Zeichenmaterial ist nicht der Signifikant gemeint, auf den die Aufmerksamkeit zu richten ja bedeutete, ihn in seiner Bezeichnungsfunktion wahrzunehmen: also das Zeichen als Verbindung von “Vorstellung” und “Lautbild”. Vgl. Ferdinand der Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin 1967, S. 78.
Vgl. Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt/M. 1964.
Sigmund Freud, “Das Unheimliche”, in: Studienausgabe Bd. IV, Frankfurt/M. 1970, S. 240–274.
Sören Kierkegaard, “Das Tagebuch des Verfülirers”, in: ders., Entweder/Oder, Erster Teil. Band II, Gütersloh 1979.
Zu den Topoi der ‘Überwältigung’ vgl. Roland Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt/M. 1984, S. 128ff. 221, 240 f.
Sherry B. Ortner, “Verhält sich weiblich zu männlich wie Natur zu Kultur?”, in: Unbeschreiblich weiblich. Texte zur feministischen Anthropologie, hrsg. v. Gabriele Rippl, Frankfurt/M. 1993, S. 27–54.
Zur Kritik an Ortner vgl. Carol P. MacCormack, “Natur, Kultur und Geschlecht: Eine Kritik”, in: Rippl (1993), S. 55–87.
Der Verführer des “Tagebuches” verzichtet auf die sexuelle Verführung, die in der Motivgeschichte ein unverzichtbares Element des Plots im Zusammenhang mit Ehrverlust, Rache oder Kindsmord war, da es ihm nur auf den ästhetischen Genuß der manipulierten Emotionen ankommt, den Selbstgenuß der ‘Reflexion’. Zur Motivgeschichte vgl. Elisabeth Frenzel, Motive der Weltliteratur, Stuttgart 1980, “Verführer und Verführte”, S. 720–737.
Ute Frevert, ‘Mann und Weib und Weib und Mann’. Geschlechterdifferenzen in der Moderne, München 1995, S. 171 f.
Wolfgang Baumgart, Ritual und Literatur, Tübingen 1996, S. 76ff. Zu Effi Briest vgl. S. 78.
Erving Goffman, Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München 1969, vgl. S. 19.
Vgl. Christian Grawe, “Crampas’ Lieblingsdichter Heine und einige damit verbundene Motive in Fontanes ‘Effi Bliest’”, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 38 (1982), S. 153.
Für das folgende vgl. René Girard, Das Heilige und die Gewalt, Frankfurt/M. 1992.
Vgl. Hinrich Fink-Eitel, Die Philosophie und die Wilden. Über die Bedeutung des Fremden für die europäische Geistesgeschichte, Hamburg 1994.
Vgl. Manfred Geier, Methoden der Sprach- und Literaturwissenschaft, München 1983, S. 83 ff.
Vgl. Konrad Ehlich, “Die Fremde als Spuk: Fontane”, in: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 24 (1998), S. 83–96, S. 92, und Helmstetter (1998), S. 213.
Helmuth Stöcker, Deutschland und China im 19. Jahrhundert, Berlin 1958, bezieht.
Vgl. Ulrich Broich, “Formen der Markierung von Intertextualität”, in: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglist. Fallstudien, hrsg. v. Ulrich Broich u. Manfred Pfister, unter Mitarbeit v. Bernd Schulte-Middelich, Tübingen 1985 S. 47
und Renate Lachmann, “Intertextualität als Sinnkonstitution. Andrej Belyjs Petersburg und die ‘fremden’ Texte”, in: Poetica 15 (1983), S. 66–107, S. 66 f.
Vgl. Shanima Schahadat, “Intertextualität: Lektüre — Text — Intertext”, in: Einführung in die Literaturwissenschaft, hrsg. v. Miltos Pechlivanos u.a., Stuttgart Weimar 1995, S.366–377, S. 375, vgl. auch Lachmann (1983), S.99 f.
Vgl. Lothar Köhn, “Die Schrecken des Modernen. Fontanes Begründung realistischer Erzählprosa: Aus den Tagen der Okkupation (1871)”, in: DVjs 70 (1996), S. 610–643, S. 612. Helmstetter (1998, S.97) bezieht diese Aussage auf die Wanderungen und Kriegsberichte, nicht jedoch auf die fiktionalen Texte. Tatsächlich sprechen die fiktionalen Texte eine eindeutige (inter-textuelle) Sprache.
vgl. Dieter Borchmeyer, “Melusine oder die ‘ewig sieggewisse Macht’ des Elementaren. Mörike und Wagner in einer Parallele Fontanes”, in: ‘Sei mir, Dichter, willkommen’. Studien zur deutschen Literatur von Lessing bis Jünger, hrsg. v. Klaus Garber u.a., Köln 1995, S. 169–181. 61 Vgl. Louis Vax, “Die Phantastik”, in: Phaicon I, Frankfurt/M. 1974, S. 11–43, S. 21.
Vgl. Bohrer (1989), S. 119. Das längere Zitat aus Heines Die Romantische Schule, das bei Bohrer Heines Wertschätzung “unseres vortrefflichen Ludwig Tieck” belegen soll, dürfte zu einem nicht geringen Teil als ironisches Lob gemeint sein, etwa, was das “schöne Fräulein” betrifft, das “so schön, so blond, so veilchenäugig, so lächelnd (…)” erscheint. Vgl. Bohrer (1989), S. 121f. Von Tieck heißt es bei Heine nach dem unzweifelhaft ironischen Lob der Novellen: “Seine Theaterkritiken, die er unter dem Titel ‘Dramaturgische Blättter’ gesammelt, sind noch das Originalste, was er geliefert hat. Aber es sind Theaterkritiken.” Heinrich Heine, Die romantische Schule, Stuttgart 1976, S. 83.
Vgl. Robert Spaemann, “Ähnlichkeit”, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 50 (1996), S. 286–290.
Jean Bellemin-Noel, “Des formes fantastique aux thèmes fantastiques”, in Littérature 2 (1971), S. 103–128, S. 112 f., zitiert nach Jackson (1981), S. 38.
Vgl. Reichelt (1999), S. 83 ff. Jürgen Wertheimer beschreibt die Mortifikation durch das Bild bezogen darauf, daß Effi “entsetzt zurückschreckt, die gemeinsame Italienreise nun noch einmal — auf der Basis von Fotos, Prospekten etc. — ‘durchzumachen’“, während es für Instetten gilt, das “Erlebte in der Rekonstruktion bewußtseinsmäßig zu sichern und als ‘Besitz’ zugänglich zu machen.” Jürgen Wertheimer, “Effis Zittern: ein Affektsignal und seine Bedeutung”, in: Zeitschrift fur Literaturwissenschaft und Lingusitik 26 (1996), S. 134–139, S. 137.
Vgl. Susan Sontag, Über F otographie, München Wien 1978, S. 87 ff.
Klaus Bartels, “Das Verschwinden der Fiktion. Über das Altem der Literatur durch den Medienwechsel im 19. und 20. Jahrhundert”, in: Ansichten einer künftigen Medienwissenschaft, hrsg. v. Rainer Bohn, Berlin 1988, S. 239–256, S. 243.
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Reichelt, G. (2001). “Mythologie war immer mein Bestes”. Einbildungskraft, Angst und Unterwerfung in Theodor Fontanes Roman Effi Briest. In: Fantastik im Realismus. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02846-4_7
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