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Einbildungskraft und Fantastik in Gottfried Kellers Der Grüne Heinrich

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Fantastik im Realismus
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Zusammenfassung

Als ein Schlüsselerlebnis Kellers gilt seine Begegnung mit Ludwig Feuerbach und dessen Religionsphilosophie. Feuerbachs Analyse des Imaginären, seine Ausführungen über die Vertauschung von “Bild” und “Sache”, stellen daher einen naheliegenden Orientierungspunkt für das Thema der Einbildungskraft im Kellerschen Roman dar. Ich möchte zunächst zeigen, daß die Pointe der literarischen Rezeption bei Keller in einer Abweichung vom Feuerbachschen Wissenschaftsoptimismus besteht, denn die in der Projektion gedachte Selbstentfremdung erscheint bei Keller, anders als bei Feuerbach (und in anderer Weise bei Marx), als nicht aufhebbar. Von Feuerbach trennt Keller die Dominanz, die er der Kategorie der Gesellschaft gegenüber der Natur einräumt, von Marx’ Feuerbach-Thesen, die ebenfalls an diesem Punkt ansetzen, die pessimistische Perspektive auf Gesellschaft (5.1). Ferner werden die Mechanismen der Spiegelung, die Feuerbach und Marx als ‘Aufklärer’ aufzulösen trachteten, bei Keller zu produktiven literarischen Verfahren, wie insbesondere die fantastische Episode vom Meretlein zeigt (5.2).1

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Literatur

  1. Dies haben untersucht: Winfried Menninghaus, Artistische Schrift, Studien zur Kompositionskunst Gottfried Kellers, Frankfurt/M. 1982 und, daran anschließend,

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  12. Die ältere Arbeit von Hans Dünnebier sei stellvertretend genannt für die Tendenz, die Relevanz Feuerbachs für den Autor Keller in jenem Erweckungserlebnis zu suchen, das in der vorbehaltlosen Bejahung des Diesseits und der natürlich- sinnlichen menschlichen Existenz bestehen soll: “Der fruchtbare Mutterboden alles Denkens ist dem früheren Idealisten nunmehr die volle, blühende Sinnlichkeit.” Hans Dünnebier, Gottfried Keller und Ludwig Feuerbach, Zürich 1913, S. 51.

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  13. Gerhart v. Graevenitz, “Mythologie des Festes — Bilder des Todes”, in: Das Fest. Poetik und Hermeneutik XIV, hrsg. v. Walter Haug und Rainer Warning, München 1989, S. 555.

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  32. Bei Gockel heißt es dazu, im Zusammenhang der Böhme-Rezeption: “Ironie ist mehr als eine artistische Attitüde des Sprechens. Sie ist Verstellung im ursprünglichen Wortsinne. Sie verstellt das, wovon sie eigentlich zu reden hätte. Aber sie kann nur von ihm sprechen in der Verstellung. Als das Wissen vom unendlichen Zusammenhang alles Lebendigen ist sie zugleich Ausdruck der Unmöglichkeit, von diesem Zusammenhang adäquat reden zu können. Vom Unendlichen wäre in Poesie und Wissenschaft zu reden. Aber jedes Wort ist endlich, ist begrenzt und hat einen fest umrissenen Horizont an Bedeutungen.” (1979, S. 28). Und bei Mennemeier: “Ironisches Bewußtsein ist, von hier betrachtet, nichts anderes als die Reflexion auf die Tatsache, daß, was dem Normal verstand als unwandelbares Sprachmedium erscheint, nur mehr Augenblick in einem unendlichen Prozeß empirischer Setzungen ist, daß im Hinblick auf die unmöglichen oder noch nicht erreichten vollendeten Begriffe Sprache sich als bloß vorläufiger, seiner eigenen Überholbarkeit nicht bewußter Sprachzustand erweist. Ironische Sprache als produktive Reaktion auf diese Einsicht bleibt zwar ihrerseits an das Schicksal aller Sprache als einer jeweils fixen geschichtlichen Größe gebunden; doch sucht sie in der Fixierung zugleich die Antizipation auf ihre eigene Negation und selbst die Negation dieser Negation zu bewerkstelligen”. Franz Norbert Mennemeier, “Fragment und Ironie beim jungen Friedrich Schlegel. Versuch der Konstruktion einer nicht geschriebenen Theorie”, in: Poetica 2 (1968), S. 348–370, S. 358.

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  36. Wolfgang Rohe, Roman aus Diskursen: Gottfried Keller ‘Der grüne Heinrich’, erste Fassung, 1854/55 München 1993, S. 230 (mit Bezug auf Laufhütte).

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  37. Vgl. Ingeborg Ackermann, “‘Geistige Copie der Welt’ und ‘Wirkliche Wirklichkeit’. Zu B.H. Brockes und Adalbert Stifter, in: Emblem und Emblematikrezeption. Vergleichende Studien zur Wirkungsgeschichte vom 16. bis 20. Jahrhundert, hrsg. v. Sibylle Penkert, Darmstadt 1978, S. 436–501.

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Reichelt, G. (2001). Einbildungskraft und Fantastik in Gottfried Kellers Der Grüne Heinrich. In: Fantastik im Realismus. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02846-4_5

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-02846-4_5

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