Zusammenfassung
Als ein Schlüsselerlebnis Kellers gilt seine Begegnung mit Ludwig Feuerbach und dessen Religionsphilosophie. Feuerbachs Analyse des Imaginären, seine Ausführungen über die Vertauschung von “Bild” und “Sache”, stellen daher einen naheliegenden Orientierungspunkt für das Thema der Einbildungskraft im Kellerschen Roman dar. Ich möchte zunächst zeigen, daß die Pointe der literarischen Rezeption bei Keller in einer Abweichung vom Feuerbachschen Wissenschaftsoptimismus besteht, denn die in der Projektion gedachte Selbstentfremdung erscheint bei Keller, anders als bei Feuerbach (und in anderer Weise bei Marx), als nicht aufhebbar. Von Feuerbach trennt Keller die Dominanz, die er der Kategorie der Gesellschaft gegenüber der Natur einräumt, von Marx’ Feuerbach-Thesen, die ebenfalls an diesem Punkt ansetzen, die pessimistische Perspektive auf Gesellschaft (5.1). Ferner werden die Mechanismen der Spiegelung, die Feuerbach und Marx als ‘Aufklärer’ aufzulösen trachteten, bei Keller zu produktiven literarischen Verfahren, wie insbesondere die fantastische Episode vom Meretlein zeigt (5.2).1
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Literatur
Dies haben untersucht: Winfried Menninghaus, Artistische Schrift, Studien zur Kompositionskunst Gottfried Kellers, Frankfurt/M. 1982 und, daran anschließend,
Thomas Meurer, “Das ‘Meretlein’. Anmerkungen zu einem vernachlässigten Problem in Gottfried Kellers ‘Grünem Heinrich’”, in: Wirkendes Wort 44 (1994), S. 40–46.
Vgl. Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums. Werke in sechs Bänden (V), hrsg. v. Erich Thies, Frankfurt/M. 1976 (1841), S. 44.
Konersmann schreibt: “Den Menschen wieder als Original einzusetzen, heißt für Feuerbach, ihm durch Inversion der Spiegelung seine Unmittelbarkeit wiederzugeben.” Ralf Konersmann, “Phantasma des Spiegels. Feuerbachs Umkehrung der Spekulation,” in: Archiv für Begriffsgeschichte 28 (1984), S.179–200, S. 189.
Vgl. Feuerbach (1976), S. 12, 89 f. u. 210. Diese Vorstellung wurde von den Zeitgenossen verdächtigt, ihrerseits eine neues Mythologem bereitzustellen, so von Max Stirner, der Feuerbach, wie Stepelevic schreibt, den “Spuk des Gattungswesens” austreiben will. Vgl. Lawrence S. Stepelevic, “Stirner contra Feuerbach”, in: Ludwig Feuerbach und die Philosophie der Zukunft, hrsg. v. Hans Jürgen Braun u.a., Berlin 1990, S. 643–655, S. 650.
Karl Marx, “Feuerbach-Thesen”, in: Deutsche Ideologie, 1846, 6. Feuerbach-These, zitiert nach Negt (1996), S. 506. Bezeichnend für diesen Zusammenhang ist ein Aphorismus, in dem Feuerbach den Unterschied von Idee und Interesse leugnet, bezogen auf eine Stelle aus Castelars Rede gegen eine spanische Monarchie — “Die Geschichte der Menschheit ist ein steter Kampf zwischen den Ideen und Interessen; für den Augenblick siegen immer die letzteren, auf die Dauer immer die Ideen”.
Ludwig Feuerbach, Anthropologischer Materialismus. Ausgewählte Schriften I, Frankfurt/M. 1967, S. 236, [Hervorhebung im Original].
Alfred Schmidt, Emanzipatorische Sinnlichkeit. Ludwig Feuerbachs anthropologischer Materialismus, München 1973, S. 266. Daß Feuerbach Sinnlichkeit als “aktives Prinzip der Freiheit” deutet und als “praktisch, politisch und staatstragend” versteht, wie Ursula Reitemeyer zum Zwecke seiner Rehabilitierung ausführt, ändert nichts daran, daß sich diese Emphase und ihr geschichtsphilosophisch-utopischer Kern einer Vernachlässigung des Gesellschaftlichen in der Analyse verdankt.
Ursula Reitemeyer, Philosophie der Leiblichkeit. Ludwig Feuerbachs Entwurf einer Philosophie der Zukunft, Frankfurt/M. 1988, S. 123 f. Zudem bleibt Feuerbach der kritisierten idealistischen Philosophie mehr verhaftet, als er wahrhaben wollte, wie Dorothee Vögeli ausgehend von der Frühschrift “Gedanken über Tod und Unsterblichkeit” nachweist: “‘Leben’ ist idealisiert und wie bei Hegel im dynamischen Subjektbegriff enthalten”, von einer Wende zur Natur könne daher nur in eingeschränktem Sinne die Rede sein.
Dorothee Vögeli, Der Tod des Subjekts. Die Mystik des jungen Feuerbach, dargelegt anhand seiner Frühschrift ‘Gedanken über Tod und Vergänglichkeit’, Würzburg 1997, S. 52.
Vgl. Ludwig Feuerbach, “Die Naturwissenschaft und die Revolution”, in: Anthropologischer Materialismus. Ausgewählte Schriften II, Frankfurt /M. 1967, S. 212–230, S. 230. Auch der “schmähliche Verlauf und Ausgang unserer sogenannten Märzrevolution” verdankte sich, Feuerbach zufolge, den “Kartoffelstopfem”. A.a.O.., S. 229.
Die ältere Arbeit von Hans Dünnebier sei stellvertretend genannt für die Tendenz, die Relevanz Feuerbachs für den Autor Keller in jenem Erweckungserlebnis zu suchen, das in der vorbehaltlosen Bejahung des Diesseits und der natürlich- sinnlichen menschlichen Existenz bestehen soll: “Der fruchtbare Mutterboden alles Denkens ist dem früheren Idealisten nunmehr die volle, blühende Sinnlichkeit.” Hans Dünnebier, Gottfried Keller und Ludwig Feuerbach, Zürich 1913, S. 51.
Gerhart v. Graevenitz, “Mythologie des Festes — Bilder des Todes”, in: Das Fest. Poetik und Hermeneutik XIV, hrsg. v. Walter Haug und Rainer Warning, München 1989, S. 555.
Dem entspräche Freunds Deutung der realistischen Fantastik. Vgl. Winfried Freund, Literarische Phantastik. Die phantastische Novelle von Tieck bis Storm, Stuttgart Berlin Köln 1990.
Vgl. Mark Lehrer, Intellektuelle Aporie und literarische Originalität. Wissenschaftsgeschichtliche Studien zum deutschen Realismus: Keller, Raabe und Fontane, New York 1991, S. 21–36.
Ursula Mahlendorf, “The Crime of Punishment: The Psychology of Child Abuse and the Meretlein Incident in Gottfried Keller’s ‘Der Grüne Heinrich’”, in: German Quarterly 70 (1997), S. 247–260.
Vgl. Jean Piaget, Das Weltbild des Kindes, Frankfurt/M. Berlin Wien 1980, S. 145–161.
Vgl. Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/M. 1971, S. 163 zu den Gestiken “der Unmittelbarkeit”, S.163, zum “mimetischen Impuls”, S. 164 ff.
Karl Philipp Moritz, Anton Reiser, Stuttgart 1972, S. 15.
Alle Zitate, sofern nicht anders vermerkt, aus: Gottfried Keller, Der Grüne Heinrich. Zweite Fassung, hrsg. v. Peter Villcock, in: Sämtliche Werke in sieben Bänden, hrsg. v. Thomas Böning u.a., Bd. III, Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt/M. 1996.
Vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt 1976, S. 256 ff.
Adorno, Horkheimer (1971), S. 163 ff. Diese Deutung widerspricht daher der Gleichung, die Gabriel Imboden aufmacht: “Natur = Poesie = ewig sich gleich Bleibendes = rein Menschliches = ursprünglich Volkstümliches”, Gabriel Imboden, Gottfried Kellers Ästhetik auf der Grundlage der Entwicklung seiner Naturvorstellung. Studie zur Begründung der geometrischen Struktur in der Novellistik, Frankfurt/M. 1976, S. 70,
zitiert nach Hugo Aust, “Bürgerlicher Realismus. Forschungsbericht (Teil II)”, in: Wirkendes Wort 35 (1985), S. 72–85, S. 74.
Zur Bedeutung der Allegorie für den Roman vgl. Gottfried Keller, Sämtliche Werke. Bd. 3, Der Grüne Heinrich. Zweite Fassung, hrsg. v. Peter Villwock, Frankfurt/M. 1996, S. 956 f. Vgl. auch:
Peter Utz, “Der Rest ist Bild. Allegorische Erzählschlüsse im Spätwerk Gottfried Kellers”, in: Die Kunst zu enden, hrsg. v. Jürgen Söring, Frankfurt/M. Bern New York 1990, S. 65–77.
Daß das auf Judith sich richtende sexuelle Begehren, verglichen mit der ‘reinen Liebe’ zu Anna, ein minderwertiges ist, bildet das ebenso unentbehrliche wie wiederum unausgesprochene Argument dafür, daß es als nicht lebbar und als nicht darstellbar vorausgesetzt werden kann. Auch in diesem Sinne zählt Sexualität zum Inventar jener Ausschließungen, über die der bürgerliche Realismus definiert worden ist. Vgl. Marianne Wünsch, “Vom späten ‘Realismus’ zur ‘Frühen Moderne’: Versuch eines Modells des literarischen Strukturwandels”, in: Modelle des literarischen Strukturwandels, hrsg. v. Michael Titzmann, Tübingen 1991, S. 187–204.
Klaus-Detlef Müller, “Die ‘Dialektik der Kulturbewegung’. Hegels romantheoretische Grundsätze und Kellers Grüner Heinrich:” in: Poetica8 (1976), S. 300–320, S. 302.
Vgl. Salomon Geßner, “Brief über die Landschaftsmalerei”, in: Sämtliche Schriften III, hrsg. v. Martin Bircher, Zürich 1974, S. 231–273, S. 250.
Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hrsg. v. Ernst Behler, Paderborn München Wien 1958 ff. II, Athenäums-Fragmente, S. 165–255, Nr. 217.
Vgl. Emil Ermatmger, Gottfried Kellers Leben, Zürich 19508, S. 305.
Vgl. zum “chemischen Zeitalter” und der “chemische(n) Natur des Romans, der Kritik, des Witzes, der Geselligkeit, der neuesten Rhetorik und der bisherigen Historie”, Athenäum, Nr. 248 (FSH, 248, Pikuhk). Zur Chemie vgl. auch Heinz Gockel, “Friedrich Schlegels Theorie des Fragments”, in: Romantik. Ein literaturwissenschaftliches Studienbuch, Königstein/ Ts 1979, hrsg. v. Ernst Ribbat, S. 22–37, S. 31.
Bei Gockel heißt es dazu, im Zusammenhang der Böhme-Rezeption: “Ironie ist mehr als eine artistische Attitüde des Sprechens. Sie ist Verstellung im ursprünglichen Wortsinne. Sie verstellt das, wovon sie eigentlich zu reden hätte. Aber sie kann nur von ihm sprechen in der Verstellung. Als das Wissen vom unendlichen Zusammenhang alles Lebendigen ist sie zugleich Ausdruck der Unmöglichkeit, von diesem Zusammenhang adäquat reden zu können. Vom Unendlichen wäre in Poesie und Wissenschaft zu reden. Aber jedes Wort ist endlich, ist begrenzt und hat einen fest umrissenen Horizont an Bedeutungen.” (1979, S. 28). Und bei Mennemeier: “Ironisches Bewußtsein ist, von hier betrachtet, nichts anderes als die Reflexion auf die Tatsache, daß, was dem Normal verstand als unwandelbares Sprachmedium erscheint, nur mehr Augenblick in einem unendlichen Prozeß empirischer Setzungen ist, daß im Hinblick auf die unmöglichen oder noch nicht erreichten vollendeten Begriffe Sprache sich als bloß vorläufiger, seiner eigenen Überholbarkeit nicht bewußter Sprachzustand erweist. Ironische Sprache als produktive Reaktion auf diese Einsicht bleibt zwar ihrerseits an das Schicksal aller Sprache als einer jeweils fixen geschichtlichen Größe gebunden; doch sucht sie in der Fixierung zugleich die Antizipation auf ihre eigene Negation und selbst die Negation dieser Negation zu bewerkstelligen”. Franz Norbert Mennemeier, “Fragment und Ironie beim jungen Friedrich Schlegel. Versuch der Konstruktion einer nicht geschriebenen Theorie”, in: Poetica 2 (1968), S. 348–370, S. 358.
Lucien Dällenbach, “Fragmentarisches Vorwort”, in: Fragment und Totalität, hrsg. v. Lucien Dällenbach u. L. Hart Nibbrig, Frankfurt/M. 1984, S. 15,
zitiert nach Ernst Behler, “Das Fragment der Frühromantik”, in: ders.: Studien zur Romantik und zur idealistischen Philosophie II, Paderborn München Wien Zürich 1993, S. 27–42, S. 37. Während Behler die eschatologische Deutung favorisiert (ebda.), akzentuiert Manfred Frank “den Charakter eines uneinholbaren Verlustes, nach dessen Wiederaneignung ein in die Zukunft vorlaufendes unendliches Streben — vergeblich — trachtet.” Einheit stellt sich daher immer nur “punktuell und transitorisch her”.
Manfred Frank, “Das ‘fragmentarische Universum’ der Romantik”, in: Dällenbach (1984), S. 212–224, S. 216.
Wolfgang Rohe, Roman aus Diskursen: Gottfried Keller ‘Der grüne Heinrich’, erste Fassung, 1854/55 München 1993, S. 230 (mit Bezug auf Laufhütte).
Vgl. Ingeborg Ackermann, “‘Geistige Copie der Welt’ und ‘Wirkliche Wirklichkeit’. Zu B.H. Brockes und Adalbert Stifter, in: Emblem und Emblematikrezeption. Vergleichende Studien zur Wirkungsgeschichte vom 16. bis 20. Jahrhundert, hrsg. v. Sibylle Penkert, Darmstadt 1978, S. 436–501.
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Reichelt, G. (2001). Einbildungskraft und Fantastik in Gottfried Kellers Der Grüne Heinrich. In: Fantastik im Realismus. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02846-4_5
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