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Im Spie(ge)l des Schreckens und Begehrens. Spiegelphänomene in der phantastischen Literatur am Beispiel von E.T.A. Hoffmanns Die Abenteuer der Sylvester-Nacht

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Phantastik — Kult oder Kultur?
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Zusammenfassung

Spiegelphänomene sind ein wesentlicher Bestandteil des Phantastischen nicht nur in seinen literarischen Gestaltungen. Man begegnet ihnen natürlich ebenso in der bildenden Kunst insbesondere seit dem Manierismus; stellvertretend für viele andere Beispiele sei hier nur auf Dalís Métamorphose de Narcisse1 verwiesen, wo bereits die im Thema angelegte Spiegelproblematik die Metamorphose selbst erfaßt: die Umgestaltung der Morphologie suggeriert durch die invertierte Symmetriebeziehung von vorheriger und nachmaliger Gestalt den Identitätswandel, verräumlicht so die sukzessiv-temporale Struktur der Metamorphose. Die simultane Präsenz beider Formen in einem Bild unterstreicht die unauflösliche Spannung des narzißtischen Begehrens, in dem Objekt und Subjekt auf tragische Weise zusammenfallen.

Yo, de niño, temia que el espejo

Me mostrara otra cara o una ciega

Mascara impersonal que acultaría

Algo sin duda atroz. Temí asimismo

Que el silencioso tempo del espejo

Se desviara del curso cotidiano

De las horas del hombre y hospendara

En su vago confin imaginario

Seres y formas y colores nuevos. (…)

Jorge Luis Borges: El espejo

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Notizen

  1. Salvador Dalí: Métamorphose de Narcisse (1937). Öl auf Leinwand. Täte Gallery, London (Sammlung Edward James). Dali zeigte dieses Bild Sigmund Freud bei ihrer Begegnung im Juli 1938 in London.

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  8. Die Aspekte der Inversion, der Verzerrung und der Krise, welche dem Ambivalenz erzeugenden Schwellenort Spiegel zu eigen sind, rückt diesen in die Nähe derjenigen Phänomene, die Michail Bachtin in seiner Theorie einer „dialogischen“ Romantradition als „Karnevalsmotive’ klassifiziert hat, wozu eben auch der „karnevalistische Doppelgänger“ zählt. Siehe insbes. die Exemplifikationen an Texten Dostoevskijs in Michail Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs. München 1971, S. 181–199.

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  14. Daran hat sich Jacques Derridas Kritik des abendländischen Reflexionsparadigma entzündet. Siehe Jacques Derrida: La dissémination. Paris 1972.

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  15. Bezeichnenderweise handelt es sich bei einer der berühmtesten literarischen Gestaltungen dieses Motivs, Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray, um eine gleichsam sekundär induzierte Form von Narzißmus, verursacht durch die Selbstwahrnehmung des Protagonisten vermittels der Kunst in Gestalt seines vom Maler Basil Hallward angefertigten Porträts und gesteigert durch den Einfluß des dekadenten Dandys Lord Henry Wotton auf den jungen Mann. Dies wird besonders in der Erstfassung des Textes, der in der Juli-Ausgabe von Lippincott’s Monthly Magazine 1890 veröfentlicht wurde, akzentuiert. Oscar Wilde: The Picture of Dorian Gray. Authoritative texts, backgrounds, reviews and reactions, criticism. Ed. by Donald L. Lawler. New York u. London 1988; siehe insbes. Kapitel II der erstveröffentlichten Fassung v. 1890, S. 183–195.

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  22. E.T.A. Hoffmann: Sämtliche Werke. Hg. v. Hartmut Steinecke u. Wulf Segebrecht. Bd. 2/1: Fantasiestücke in Callot’s Manier. Werke 1814. Hrsg. v. Hartmut Steinecke unter Mitarbeit von Gerhard Allroggen u. Wulf Segebrecht. Frankfurt a.M. 1993, S.325–359. Da Hoffmanns Text nur als Exemplifikation für das Spiegelparadigma innerhalb des erläuterten konstitutiven Strukturmoments von phantastischer Literatur überhaupt — dem Konflikt des Imaginären und der symbolischen Ordnung -dienen soll, ergibt sich methodisch notwendigerweise die Beschränkung der Analyse auf textimmanente Phänomene. Wenn also spezifisch Hoffmannsche Kontexte ausgeblendet sind, so wird damit keinesfalls ihre Relevanz in Frage gestellt. Dies betrifft sowohl die großen motivischen Zusammenhänge von Spiegelphänomenen im Gesamtwerk — der Spiegel kann geradezu als das Zentralsymbol Hoffmannschen Schaffens gelten — über deren jeweilige Signifikanz in den einzelnen Texten zahlreiche Untersuchungen Auskunft geben (pars pro toto: Bern Stiegler: Spiegelreflexkamerastammlinde. Bildsysteme in E.T.A. Hoffmanns „Die Elexiere des Teufels “. In: Athenäum 5, 1995, S. 235–252), wie auch die poetologische Dimension der Spiegelmetapher, wie sich dies insbesondere in dem „Duplizitäts“-Theorem niedergeschlagen hat, welches nicht nur von konstitutiver Bedeutung für das „Serapiontische Prinzip“ ist, sondern das Wolfgang Preisendanz zufolge nachgerade jede Erzählung des Autors durchzieht (Wolfgang Preisendanz: Eines matt geschliffnen Spiegels dunkler Widerschein. E.T.A. Hoffmanns Erzählkunst. In: Zu E. TA. Hoffmann. Hrsg. v. Steven Paul Scher. Stuttgart 1981, S. 40–54). Methodisch ist die Applikation Lacanscher Theoreme auf Hoffmanns Texte natürlich keineswegs neu; so verdankt auch meine Analyse — wie andere entsprechende Arbeiten ebenfalls, etwa die Susanne Asches (Die Liebe, der Tod und das Ich im Spiegel der Kunst. Die Funktion des Weiblichen in den Schriften der Frühromantik und im erzählerischen Werk E.T.A. Hoffmanns. Königstein/Ts. 1985) oder Barbara Neymeyrs (Narzißtische Dekonstruktion. Zum Stellenwert von Realitätsverlust und Selbstentfremdung in E.T.A. Hoffmanns Nachtstück ‚Der Sandmann ’. In: Poetica 29, 1997, S. 499–531) — wesentliche Anregungen Friedrich A. Kittlers Aufsatz „Das Phantom unseres Ichs “ und die Literaturpsychologie: E.T.A. Hoffmann — Freud — Lacan (in: Urszenen. Literaturwissenschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik. Hg. von Friedrich A. Kittler u. Horst Turk. Frankfurt a.M. 1977, S. 139–166).

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  23. Achim Würker: Das Verhängnis der Wünsche. Unbewußte Lebensentwürfe in Erzählungen E. TA. Hoffmanns. Mit Überlegungen zu einer Erneuerung der psychoanalytischen Literaturinterpretation. Frankfurt a.M. 1993.

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  24. Vgl. dazu Karl Heinz Bohrer: Das Romantisch-Phantastische als dezentriertes Bewußtsein. Zum Problem seiner Repräsentanz. In: ders.: Die Grenzen des Ästhetischen. München u. Wien 1998, S. 9–36. Bohrer, der sich an theoretischen Positionen Carl Schmitts orientiert, sieht allerdings eher Brentano, Kleist und Arnim als Vertreter einer solchen dezentrierten und autonomen Phantastik. Bei Hoffmann hingegen würden Bohrer zufolge durch die Konsistenz der Symbolstruktur alle phantastischen Momente wieder in ein schlüssiges, transzendentales System überführt. Für Manfred Momberger hingegen sind die Texte Hoffmanns gerade Paradebeispiele fur textuelle Dezentrierungs — und Dekonstruktions-bewegungen in Hinblick auf die Positionen frühromantischer Philosophie und Ästhetik und den ihnen zugrunde liegenden Subjektbegriff. Siehe Manfred Momberger: Sonne und Punsch. Die Dissemination des romantischen Kunstbegriffs bei E.T.A. Hoffmann. München 1986.

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  25. Adelbert von Chamisso: Peter Schlemihls wundersame Geschichte. Stuttgart 1995. Siehe dazu Willy R. Berger: Drei phantastische Erzählungen — Chamissos „Peter Schlemihl“, E.T.A. Hoffmanns „Die Abenteuer der Silvester-Nacht “ und Gogols „ Die Nase “. In: Arcadia. Sonderheft Horst Rüdiger zum siebzigsten Geburtstag 1978, S. 106–138.

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May, M. (2003). Im Spie(ge)l des Schreckens und Begehrens. Spiegelphänomene in der phantastischen Literatur am Beispiel von E.T.A. Hoffmanns Die Abenteuer der Sylvester-Nacht. In: Ivanović, C., Lehmann, J., May, M. (eds) Phantastik — Kult oder Kultur?. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02835-8_6

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