Zusammenfassung
Wie andere Genres der Phantastik auch, liefert der Horror in Literatur und Film das ästhetische Terrain für Diskurse der sozialen Selbstthematisierung. Jeder Kommentar zum sogenannten ‚Horror-Paradox’, also dem freiwilligen und lustbesetzten Konsum des Abscheulichen und Schrecklichen,1 wird an Bedürfhisse einer sozialen Lebenswelt jenseits der Kultur bildungsbürgerlicher Erbaulichkeit verwiesen.2 Im Horror kommt zu Sprache, was lange dem Verbot der Darstellung oder zumindest dem Zwang zur Modellierung unterlag. Aber auch diese partielle Rechtfertigung verpönter ästhetischer Ausdrucksformen kommt nicht umhin, in letzter Konsequenz ein desolates, sogar beängstigendes Weltbild zu bilanzieren: die Illusionslosigkeit des sozialen Blicks, die moralische Kälte der Protagonisten und ihren selbstverständlichen Umgang mit martialischen Formen der Gewalt. (I)
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Notizen
Vgl. Noel Carroll: The Philosophy of Horror or Paradoxes of the Heart. New York 1990.
Vgl. Hans Richard Brittnacher: Ästhetik des Horrors. Gespenster, Vampire, Monster, Teufel und künstliche Menschen in der phantastischen Literatur. Frankfurt a.M. 1994.
Vgl. Hans Richard Brittnacher: Vom Risiko der Phantasie. Über ästhetische Konventionen und moralische Ressentiments der phantastischen Literatur am Beispiel Stephen King. In: Möglichkeitssinn. Phantasie und Phantastik in der Erzählliteratur des 20. Jahrhunderts. Hrsg. v. Gerhard Bauer u. Robert Stockhammer. Wiesbaden 2000, S. 36–60.
Vgl. Alexander Schuller: Gräßliche Hoffnung. Zur Hermeneutik des Horrorfilms. In: Die andere Kraft. Zur Renaissance des Bösen. Hrsg. v. Alexander Schuller u. Wolfert von Rahden. Berlin 1993, S. 341–354, hier S. 349.
Vgl. Philippe Aries: Geschichte des Todes. München 1982, v.a. S. 715–770.
Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Wie die Alten den Tod gebildet. In: Werke. Hrsg. v. Herbert G. Göpfert u.a. Bd. VI. Darmstadt 1996, S. 405–462.
Vgl. dazu Lars Gustafsson: Über das Phantastische in der Literatur. Ein Orientierungsversuch. In: Utopien. Essays. München 1970, S. 9–25.
Vgl. dazu auch Hans D. Baumann: Horror. Die Lust am Grauen. Weinheim, Basel 1989, S. 299 f.
Jean Paul Sartre: Théatre 1. Paris 1947, S. 123–182, hier S. 182.
Vgl. Robert Fischer: Der Schrecken des Voyeurs. Gewalt, Lust und Schönheit in DavidLynchs „Blue Velvet“. In: Bilder der Gewalt. Hrsg. v. Andreas Rost. Frankfurt a.M. 1994, S. 71–590, hier S. 81.
Vgl. dazu den immer noch grundlegenden Aufsatz von Richard Alewyn: Anatomie des Detektivromans. In: Der Kriminalroman. Zur Theorie und Geschichte einer Gattung. Hrsg. v. Jochen Vogt. Bd. II. München 1971, S. 372–403.
Ins Visier der Bundesprüfstelle fur jugendgefährdende Schriften und Filme geraten, nicht ganz zu Unrecht, vornehmlich Filme mit unbegründeten Gewaltdarstellungen („Selbstzweck“). Zum Pro und Contra der Indizierungspraxis vgl. einerseits Werner Glogauer: Kriminalisierung von Kindern und Jugendlichen durch Medien. Baden-Baden 1991; andererseits: Werner Vogelgesang: Jugend und Medienkultur. Ein Beitrag zur Ethnographie medienvermittelter Jugendwelten. In: Kölner Zeitschrift för Soziologie und Sozialpsychologie 1996, S. 464–491.
Ein typisches Beispiel für diese Haltung liefert Helmut Hartwig: Die Grausamkeit der Bilder. Horror und Faszination in alten und neuen Medien. Weinheim, Berlin 1986.
Vera Dika: Games of Terror: Halloween, Friday the 13th, and the Films of the Stalker Cycle. London u. Toronto 1990, S. 139;
hier zitiert nach der Übersetzung v. Gabriele Dietze: Hardboiled Woman. Geschlechterkrieg im amerikanischen Kriminalroman. Hamburg 1997, S. 196.
Vgl. dazu Susan Sontag: Die Katastrophenphantasie. In: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen. Frankfurt a.M. 1982, S. 279–298.
Daran erinnert Peter von Matt im Zusammenhang einer Interpretation von Kafkas Das Urteil. Vgl. Peter von Matt: Verkommene Söhne, mißratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur. München 1995, S. 285. In den Tätowierungspraktiken zumeist sozialer Randgruppen, etwa bei Gefangenen oder Motorradfahrern, lebt der Initiationscharakter der Inzision fort.
Zum Zusammenhang von Kafkas Erzählung und der für das Werk Kafkas überhaupt zentralen Idee der Hautperforation vgl. Claudia Benthien: Haut. Literaturgeschichte-Körperbilder- Grenzdiskurse. Reinbekbei Hamburg 1999, v.a. S. 131–143.
Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. In: Werke in drei Bänden. Hrsg. v. Karl Schlechta. Bd. 2. München 1994, S. 305.
Vgl. etwa George Grosz: John der Frauenmörder (1918);
Otto Dix: Selbstbildnis als Lustmörder (1920);
Oskar Kokoschka: Mörder, Hoffnung der Frauen (1919). In Karl Kraus’ Rezension von Wedekinds Lulu wird die fast sakrale Dimension des Tötens mit dem Messer aus den Bedingungen des Geschlechterkriegs abgeleitet: Jack the Ripper erscheint dem Rezensenten als „Rächer des Mannsgeschlechts“, dessen „Messeramt“ ein Symbol seiner priesterlichen Aufgabe ist.
Vgl. Karl Kraus: Die Büchse der Pandora (1905). In: Heine und die Folgen. Schriften zur Literatur. Hrsg. v. Christian Wagenknecht. Stuttgart 1985, S. 5–17, hier S. 10.
Vgl. Karsten Visarius: Das Auge und das Messer. Die Schaulust zwischen Allmacht und Blendung. In: Kino und Couch. Zum Verhältnis von Psychoanalyse und Film. Frankfurt a.M. 1990, S. 13–19, hier S. 16.
Vgl. dazu Claudia Benthien (Anmerkung 23). Benthien beruft sich auf das psychoanalytische Modell von Didier Anzieu, der die Genese des Selbst von der körperlichen Hülle ableitet, die ein Außen allererst konstituiert; vgl. Didier Anzieu: Das Haut-Ich. Frankfurt a.M. 1992.
Vgl. auch Georg Seeßlen: Ein sehr familiäres Gesicht des Schreckens. In: Heaven Sent 6. Frankfurt a.M. 1992, S. 25: „Die durchgehende Metapher des neuen Horror-Films ist nicht die erotische Vereinigung, Kuß oder Penetration, sondern das Fressen und Verschlingen.“ Es ist ein wüstes Mahl, kein erotischer Akt, was die Vampire in Near Dark-Art mit ihren Opfern veranstalten; sie haben nicht das geringste Interesse, wie Graf Dracula, an der Schönheit und letzthinnigen Unversehrtheit des Opfers. Der zerplatzende Schädel, das durch die Bauchdecke brechende Monster, der gehirnschlürfende Untote, der schmatzende und sich besudelnde Gremiin, der kultivierte Kannibale Hannibal Lecter in The Silence of the lambs—sie alle sprechen davon, daß das Essen seine Unschuld verloren hat. Die Welt ist ein Anagramm des Körpers, der nur noch verdaut, zu viel davon. In Chuck Russells The Blob (Der Blob, 1988) frißt und verdaut ein beweglicher Riesenmagen ohne Gehirn die Bewohner einer amerikanischen Kleinstadt.
Elias Canetti: Masse und Macht. Frankfurt a.M. 1980, S. 223.
Vgl. James Matthew Barrie: Peter Pan, or the Boy who would not grow up. 1904.
Vgl. dazu Hans Richard Brittnacher: Paranoia als ästhetisches Gesetz. Das literarische Universum des Howard Phillips Lovecraft. In: Compar(a)ison 11/1997 (Ästhetiken des Häßlichen), S.51–72.
Vgl. dazu Burkhard Müller: Stephen King. Das Wunder, das Böse und der Tod. Stuttgart 1998, S. 15.
So etwa setzt sich das Model Neil McAndrew erfolgreich als Double des Cybergirls Lara Croft aus dem Computerspiel Tomb Raider in Szene. Vgl. dazu Manfred Geier: Fake—Leben in künstlichen Welten. Mythos—Literatur- Wissenschaft. Reinbek bei Hamburg 1999, S. 11.
Vgl. dazu Wolfgang Sofsky: Traktat über die Gewalt. Frankfurt a.M. 1996.
Z.B. ebd., v.a. S. 209–226; vgl. auch Bernd Hüppauf: Krieg, Gewalt und Moderne. In: Gewalt. Faszination und Furcht. Hrsg. v. Frauke Meyer-Gosau und Wolfgang Emmerich. Leipzig 1994, S. 12–40.
Peter Sloterdijk: Sendboten der Gewalt. In: Medien-Zeit. Drei gegenwartsdiagnostische Versuche. Stuttgart 1994, S. 7–42, hier S. 25.
Todorov spricht in diesem Zusammenhang von der „libido dominandi“ als einer letzten, nicht weiter reduzierbaren Kategorie. Vgl. Tzvetan Todorov: Angesichts des Äußersten. München 1993, S. 220.
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Brittnacher, H.R. (2003). Die Bilderwelt des phantastischen Schreckens. Die Verführungskraft des Horrors in Literatur und Film. In: Ivanović, C., Lehmann, J., May, M. (eds) Phantastik — Kult oder Kultur?. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02835-8_12
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