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Autobiographie — Rhetorik — Schrift Zum Beispiel Marie Luise Kaschnitz

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Zusammenfassung

Marie Luise Kaschnitz hat sich selbst als »ewige Autobiographin« (III, 827) bezeichnet, und tatsächlich sind allein zwei Bände der siebenbändigen Werkausgabe der autobiographischen Prosa der Autorin gewidmet.1 In Anbetracht der Tatsache, daß eine ganze Reihe von Beiträgen im vorliegenden Band der Autobiographik von Marie Luise Kaschnitz gewidmet sind, erscheint es nicht ungerechtfertigt, einige theoretische Überlegungen zur Autobiographie an den Anfang zu stellen. Die Autobiographie wirft grundsätzliche literatursystematische Fragen auf, vordringlich die immerwiederkehrende Frage nach dem Verhältnis von Literatur und der sog. ›Realität‹, die der autobiographische Text zu beschreiben vorgibt. Autobiographien werden vielfach gelesen, um Einblick in realiter gelebtes Leben zu gewinnen, und oftmals werden sie auch mit dem Anspruch geschrieben, tatsächlich gelebtes Leben wiederzugeben. Die Autobiographieforschung indessen hat seit langem auf die Aporien hingewiesen, das Leben, so wie es ›tatsächlich war‹, darstellen bzw. aus einem Text, einem zeichenhaften Gebilde, unverstellte Lebenswirklichkeit herauslesen zu wollen. Dafür sind nicht nur die Lückenhaftigkeit des autobiographischen Gedächtnisses und die — nachvollziehbare — Neigung von Autobiographen und Autobiographinnen, sich selbst und das eigene Leben zu stilisieren, verantwortlich, hervorzuheben ist insbesondere die Tatsache, daß die Sprache in ihrer Zeichenhaftigkeit grundsätzlich nicht eine ihr vorausliegende Wirklichkeit abbildet, sondern ihren eigenen medialen Gesetzmäßigkeiten folgt.

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Notizen

  1. Einen guten Überblick über Kaschnitz’ autobiographische Texte gibt Uwe Schweikert in diesem Band. der Hand, daß dieser symbolische Sinn immer nur das Produkt einer nachträglichen Interpretation sein kann, einer Interpretation, die bewertet, die auswählt, die arrangiert. »Es sind lauter Resultate meines Lebens«, äußert Goethe gegenüber Johann Peter Eckermann am 30. März 1831, »und die erzählten einzelnen Facta dienen bloß, um eine allgemeine Beobachtung, eine höhere Wahrheit zu bestätigen«.2 Obwohl ›Wahrheit‹ natürlich nicht gleichbedeutend mit Wirklichkeit ist oder gar originalgetreue Wirklichkeitsabbildung meint, hat die Autobiographieforschung versucht, mit dem Begriff oder Kriterium der ›Wahrhaftigkeit‹ weiter zu kommen: Wenn es für einen Autor oder eine Autorin schon nicht möglich ist, die Wahrheit des eigenen Lebens darzustellen, so lassen sich die in Frage stehenden Forschungsansätze zusammenfassen, dann möge er oder sie doch wenigstens wahrhaftig sein, d. h. nach bestem Wissen und Gewissen berichten.3 Wie problematisch es ist, dieses Kriterium zur Bewertungsgrundlage eines autobiographischen Textes zu machen, dürfte einleuchtend sein, nicht nur, weil es nicht verifizierbar ist, sondern vor allem, weil hier ein außerliterarisches Kriterium in Anschlag gebracht wird, das über den Text als Text, d. h. als literarisch-ästhetisches Kunstwerk, nichts auszusagen in der Lage ist.

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  2. Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. (Hg.) Christoph Michel. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. 40 Bde., Bd. 11/12. Frankfurt/M. 1999, S. 479.

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  3. Vgl. dazu Martina Wagner-Egelhaaf: Autobiographie. Stuttgart, Weimar 2000, S. 40–42.

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  4. Michel Foucault: Was ist ein Autor? In: Ders.: Schriften zur Literatur. Frankfurt/M., Berlin, Wien 1979, S. 7–31, hier S. 11.

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  5. Vgl. Paul de Man: Autobiographie als Maskenspiel. In: Ders.: Die Ideologie des Ästhetischen. (Hg.) Christoph Menke. (Übers.) Jürgen Blasius. Frankfurt/M. 1993, S. 131–146 (das engl. Original u. d. T. »Autobiography as De-facement«. In: Modern Language Notes, 94/5 [1979], S. 919–930).

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  6. Vgl. auch Claudia Gronemann: ›Autofiction‹ und das Ich in der Signifikantenkette. Zur literarischen Konstitution des autobiographischen Subjekts bei Serge Doubrovsky. In: Poetica, 31/1–2 (1999), S. 237–262, hier S. 244.

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  7. Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Gesammelte Werke in neun Bänden. (Hg.) Adolf Frisé, Bde. I–V. Reinbek bei Hamburg, 2. Aufl. 1981, S. 650.

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  8. In diesem Zusammenhang wäre auf die sprachlich begründete Subjekttheorie Jacques Lacans einzugehen, die, wie Lacan in seinem berühmten Spiegelstadiumsaufsatz ausführt, jeglichen Akt der Selbsterkennung als imaginäre und symbolisch vermittelte Selbstverkennung ausweist. Vgl. dazu Wagner-Egelhaaf: Autobiographie, S. 38f.; Gronemann: ›Autofiction‹, S. 245ff.

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  9. Vgl. Helga Vetter: Ichsuche. Die Tagebuchprosa von Marie Luise Kaschnitz. Stuttgart 1994; vgl. auch den Beitrag von Helga Vetter in diesem Band.

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  10. Vgl. Uwe Schweikert: Das eingekreiste Ich. Zur Schrift der Erinnerung bei Marie Luise Kaschnitz. In: Ders. (Hg.): Marie Luise Kaschnitz. Frankfurt/M. 1984, S. 58–77, hier S. 71, sowie Schweikerts Ausführungen im vorliegenden Band.

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  11. Vgl. Schweikert: Das eingekreiste Ich, S. 71.

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  12. Jacques Derrida: Grammatologie. (Übers.) Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler. Frankfurt/M. 1983, S. 274.

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  13. Wolfgang Hildesheimer: Ein Haus der Kindheit. In: Merkur, 11 (1957), H. 107, S. 86–89, hier S. 86.

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  14. Ebd., S. 88.

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  15. »Es geschieht etwas mit einem, an einem, Vorkommnisse von einer kläglichen, ja entwürdigenden Art. Da ich mich höchst ungern an diese Dinge erinnere, will ich kurz zusammenfassen, was mir bei meinen letzten Besuchen geschah. Das erste: ich falle hin, und zwar der Länge nach, mit großer Gewalt. Mein Körper schlägt auf steinharten Boden auf, ich habe den Mund voll Staub und die Augen voll spritzender Funken, der Atem bleibt mir aus. Während ich versuche, mich aufzurichten, dreht sich eine schattenhafte und fürchterlich fremde Welt vor meinen Augen, ich bin aus mir selbst entlassen und schlechthin verloren — der erste neue Atemzug kostet mich eine fürchterliche, zerstörende Kraft. Das zweite: kaum eingetreten, schiebt man mir etwas in den Mund, das nach vertrocknetem Schulbutterbrot schmeckt. Ich kaue, und dabei beiße ich mir auf die Zunge. Meine Zähne sind scharf, mein Mund ist eine Wunde, die heftigen Schmerz in Wellen durch meinen Körper jagt. Ich muß aufheulen wie ein Tier und erschrecke aufs tiefste vor mir selbst. Das dritte: es ist mir schlecht. Wahrscheinlich habe ich zuviel gegessen, aber das weiß ich nicht. Ich spüre nur, wie etwas in mir aufsteigt, fadsüßlich und gallenbitter in einzelnen Brocken, durch die Brust in den Hals, es wirft mir den Kopf vornüber, drängt sich über meine Zunge hinaus, spritzt irgendwohin. Ich bin mir zuwider, von innen her verunreinigt, heillos verwandelt und fremd.« (II, 295f.)

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  16. Michel Vanhelleputte (Existentiell Autobiographisches in phantastischer Verkleidung. Gedanken zu Marie Luise Kaschnitz’ Erzählwerk Das Haus der Kindheit. In: Das erdichtete Ich — eine echte Erfindung. [Hg.] Heidy Margit Müller. Aarau, Frankfurt/M., Salzburg 1998, S. 121–133) sieht in der Fiktion die »Maske« (S. 123) des Authentischen.

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  17. Schweikert macht darauf aufmerksam, daß das Werk »keinen Untertitel, keine Gattungsbezeichnung besitzt« (vgl. S. 31 in diesem Band). Die Widmung »Meinen Geschwistern zugeeignet« (II, 272) nimmt eine autobiographische Markierung vor und läßt sich als Hinweis darauf lesen, daß Das Haus der Kindheit ein Werk der ›autofiction‹ (vgl. dazu Gronemann: ›Autofiction‹) darstellt.

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  18. Hildesheimer: Ein Haus der Kindheit, S. 86.

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  19. Vgl. etwa Anita Baus: Standortbestimmung als Prozeß. Eine Untersuchung zur Prosa von Marie Luise Kaschnitz. Bonn 1974, S. 225.

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  20. André Malraux: Das imaginäre Museum. Mit einem Nachwort von Ernesto Grassi. (Übers.) Jan Lauts. Frankfurt/M., New York 1987, S. 8.

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  21. Malraux: Das imaginäre Museum, S. 12.

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  22. Ernesto Grassi in: Malraux: Das imaginäre Museum, S. 115 und S. 120.

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  23. Malraux: Das imaginäre Museum, S. 20.

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  24. »Aus jener Zeit stammt ein bemaltes Kärtchen, das meine Mutter zuweilen, aber nicht oft, hervorholte […].« (II, 159)

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  25. Marcus Fabius Quintilianus: Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. (Hg.) (Übers.) Helmut Rahn, Bd. II. Darmstadt, 3. Aufl. 1995, S. 595.

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  26. Vgl. dazu im Einzelnen Frances A. Yates: Gedächtnis und Erinnern. Mnemotechnik von Aristoteles bis Shakespeare. Berlin 1990.

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  27. »In diesem Augenblick erfuhr der mich umgebende Raum eine blitzschnelle Verwandlung, ohne daß dabei etwa ein anderer von bestimmter Gestalt hervorgetreten wäre. Ich verlor nur gewissermaßen den Boden unter den Füßen, an die Stelle des netten vernünftigen Gesprächs traten Wort- und Tonfetzen von chaotischer Art. Obwohl ich das Haus der Kindheit nie betreten habe, bin ich doch überzeugt davon, daß es mich in diesem Augenblick wieder und noch kräftiger als das erstemal in sich hineingerissen hat.« (II, 283)

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  28. Die Wandelbarkeit des Geschlechts, die sich an der ›Mutter-Figur‹ des Kellners zeigt, läßt sich mit Judith Butler als Hinweis auf die mittels Zuschreibung konstruierte und deshalb auch veränderbare Geschlechts›identität‹ lesen; vgl. dazu den Beitrag von Monika Albrecht in diesem Band.

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  29. Hildesheimer: Ein Haus der Kindheit, S. 86.

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  30. Auf der diesem Band vorausgegangenen Tagung machte Dirk Göttsche darauf aufmerksam, daß die beständige Reorganisation Kaschnitz’ autobiographische Prosa insgesamt kennzeichne, insofern als bestimmte Episoden des Lebens über die verschiedenen Bücher hinweg immer wieder neu aufgenommen und bearbeitet werden.

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  31. Vgl. Quint, inst. VIII 6, 44.

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  32. Vgl. II, 207ff., 235ff., 477, 499, 514; III, 389, 390, 443, 455, 460, 514, 560, 580, 584, 600, 609, 610, 650, 729f., 732, 748, 684f.

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  33. »An meinem zwanzigsten Arbeitstag werde ich darüber nachdenken, warum ich das Haus Nr. 84 nicht beschreiben will, nur von außen, nicht eintreten, weder durch den Haupteingang, zu dem einige Stufen hinaufführen und durch den man in die Halle mit den Ahnenbildern, aber auch in den kleinen Arbeitsraum des Herrn Matern gelangt/noch über die verfallene Terrasse […].« etc. (II, 583f.) Den lebensweltlichen Hintergrund dieser ›Nicht-Beschreibung‹ bildet das Haus von Kaschnitz’ Großeltern im badischen Bollschweil.

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  34. Vgl. III, 9f., 12f., 21, 26, 30, 37, 39f., 64, 73, 78, 91, 107, 123, 147, 156, 162, 177ff., 190, 203, 231, 232, 240, 244, 253, 257, 265, 266, 274, 283f., 288, 290, 311f., 314, 328.

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  35. Vgl. Wohin denn ich (II, 544): »Fort von den Gräbern, fort von den Erinnerungen, draußen sein, nirgends sein, niemand sein, nicht ankommen müssen, nicht mehr lernen müssen, was man doch nicht versteht.« In Tage, Tage, Jahre (III, 244) ist das Folgende zu lesen: »Man sage nicht, daß man das alles zu Hause auch haben könnte, die Entfernung spielt eine Rolle, das Ausgesetztsein, die Hunderttausende von Kilometern, das kindliche Staunen, ich in Halifax, ich am Bosporus, ich auf dem Weg über den Großen Belt. Wozu noch zu bemerken ist, daß ich eigentlich ungern und nie zum Vergnügen reise und daß für mich jedes Weit-weg-von-Zuhause-Sein eine unverhältnismäßig große Mutprobe ist.« Über das Motiv des Reisens als topisches autobiographisches Paradigma vgl. Matthias Christen: to the end of the line. Zu Formgeschichte und Semantik der Lebensreise. München 1999.

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Wagner-Egelhaaf, M. (2001). Autobiographie — Rhetorik — Schrift Zum Beispiel Marie Luise Kaschnitz. In: Göttsche, D. (eds) »Für eine aufmerksamere und nachdenklichere Welt«. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02825-9_1

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-02825-9_1

  • Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart

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