Zusammenfassung
Bevor Richard Wagner dem Landgrafen Hermann im zweiten Aufzug des Tannhäuser Gelegenheit gibt, mit deutscher Gründlichkeit seine den Sängerstreit auslösende Frage nach »der Liebe Wesen« zu stellen, hat er den Zuschauern bereits in der ersten Szene der Oper einige von deren reizvollsten Erscheinungsformen vor Augen geführt. In den dämmrigen Tiefen des Venusbergs wird nicht nach dem »Wesen« der Liebe geforscht, sondern dort wird die Liebe gelebt; deshalb kommt dieses Unterreich der erfüllten Sinnlichkeit ohne Sprache aus. Nur die betörenden Lockrufe der Sirenen vermitteln zwischen der Welt der Begriffe, in die der Zuschauer gebannt bleibt, und dem Paradies der reinen Sinnlichkeit, in dem sich die Jünglinge und Nymphen, die Faune und Bacchantinnen allein in der Sprache ihrer Körper miteinander verständigen: Mit Blicken und Gebärden finden die Paare zusammen, im Tanz vereinigen sie sich, pantomimisch lösen sie sich voneinander, um dann, wiederum mit Winken und Blicken, neue »anmutige Verschlingungen« herbeizuführen. Während in den lichten Höhen der Wartburg singende Liebestheoretiker in der Abstraktion der Begriffe über das »Wesen« der Liebe sich austauschen und bereits damit ihre Distanz zum Thema ihrer Auseinandersetzung bekunden, herrscht in der Zauberwelt der Venus, des absoluten Begehrens und der stummen Verständigung der Körper, allein die begriffslose Sprache der Bilder und der Töne. Wagners überlegener künstlerischer Sachverstand hat gewußt, daß das Utopia der erfüllten Sinnlichkeit nur in der die Sinne unmittelbar affizierenden Sprache der Musik und der Bilder beschworen werden konnte; die Wörter und Begriffe, das Medium vernünftiger Verständigung, bleiben hier ausgeschlossen.
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Anmerkungen
Richard Wagner, Ouvertüre zu Tannhäuser, in: Dichtungen und Schriften. Jubiläumsausgabe in zehn Bänden, hg. von Dieter Borchmeyer, Frankfurt am Main 1983, Band 2, S. 106.
Gemäldegalerie Dresden, Alte Meister, Katalog der ausgestellten Werke, Dresden und Leipzig 1992, S. 252.
Ebd., S. 211, 290, 306, 316.
Ebd., S. 389.
Edgar Wind, Heidnische Mysterien in der Renaissance. Mit einem Nachwort versehen von Bernhard Buschendorf, Frankfurt am Main 21984, S. 38.
Brief vom 30. Juni 1820 an Heinrich Meyer, in: Goethes Briefwechsel mit Heinrich Meyer, hg. von Max Hecker, Weimar 1919, Band 2, S. 525.
Zu den folgenden Zitaten vgl. Charles Baudelaire, Sämtliche Werke/Briefe, hg. von Friedhelm Kemp und Claude Pichois in Zusammenarbeit mit Wolfgang Drost, München und Wien 1992, Band 7, S. 91 ff.
Charles Baudelaire, Sämtliche Werke/Briefe, München 1975, Band 3: Les fleurs du mal.
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Osterkamp, E. (2002). Das Utopia erfüllter Sinnlichkeit Die lebenden Bilder des Venusbergs. In: Krellmann, H., Schläder, J. (eds) »Die Wirklichkeit erfinden ist besser«. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02817-4_11
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