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„Realismus“ und „Zukunftsmusik“ als Kampfbegriffe im Musik-Diskurs der 50er und 60er Jahre

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Zusammenfassung

Mit dem Terminus„réalisme“ wird in Frankreich seit dem 2.Viertel des 19. Jahrhunderts argumentiert.190 Ein Wegzeichen setzt Jules Janin mit L’Âne mort von 1829, einer Parodie des „frenetischen“, d. h. des Schauerromans aus realistischer Position. Zwar gibt es auch weiterhin Schauergeschichten; doch diese beziehen ihr Material mehr und mehr aus der sozialen Wirklichkeit. Man darf nicht übersehen, daß die wichtigsten literarischen Arbeiten von Balzac bereits aus den dreißer Jahren stammen. Zu einem in der gesamten gebildeten Welt gängigen Schlagwort wird „Realismus“ spätestens durch Gustave Courbet. Auf dem Pariser Salon stellt er Anfang 1851 die Bilder Ein Begräbnis in Ornans und Die Steineklopfer aus. Wie Courbet in Deutschland rezipiert wurde — und darum geht es hier vor allem —, zeigt exemplarisch der Bericht im Deutschen Kunstblatt. Zu dem „Hauptbild“, das „Künstler, Kritiker und Publikum in Bewegung setzte“, nämlich Ein Begräbnis in Ornans, meint der Berichterstatter:

„In colossalen Verhältnissen auf einer Leinwand von mehr als 15 Fuss Breite, sehen wir hier einen Vorgang aus dem alltäglichen Leben, das Begräbnis eines Dorfbewohners sich entrollen, mit grosser Meisterschaft der Behandlung, gewandter Handhabung der technischen Mittel, mit malerischem Sinn in der Anordnung, in der kräftigen Zusammenstellung der Farben und in dem entschiedenen Helldunkel; andrerseits aber mit deutlich ausgesprochener Hinneigung zum Niedrigen und Gemeinen in Form, Charakter und Ausdruck, ja sogar mit offenbarer, absichtlicher Heraushebung und Uebertreibung des Unedlen, des Hässlichen und Lächerlichen in Zügen und Haltung der Anwesenden, eine Uebertreibung, welche in den Gestalten der zwei in ihrer scharlachrothen Amtstracht erscheinenden Schöppen oder Kirchendiener zur vollständigen Carrikatur ausartet.

Wäre dieses Bild in kleinerem Masstabe ausgeführt, hätte es nicht in der malerischen Behandlung das bedeutende Verdienst, das wir darin anerkennen müssen, so wäre es, trotz der nicht undeutlich darin ausgesprochenen Tendenz, unter hundert anderen Genrebildern unbemerkt, wenigstens unbesprochen geblieben; so aber fordert es die Kritik heraus, und ist dem hellsehenden Pariser Publikum die moralische Bedeutung dieser Darstellung nicht entgangen. In der That liegt das Absichtliche in der Wahl des Gegenstandes bei diesem wie bei allen anderen Gemälden Courbet’s auf platter Hand; zu allermeist aber scheint mir in den kolossalen Verhältnissen, in denen dieser triviale Gegenstand behandelt ist, die Anmaassung ausgesprochen zu sein, nicht nur in den Gegenständen aus dem gemeinen Leben die g l e i che Berechtigung mit geschichtlichen und heroischen Stoffen einzuräumen, sondern vielmehr das Vo l k vorzugsweise, wo nicht einzig und allein zum Gegenstande der künstlerischen Darstellung zu machen, somit das Vo l k an die Stelle der entthronten Götter, Helden und Könige zu setzen. Und unter Volk ist hier nicht etwa die Gesammtheit der Staatsbürger verstanden, sondern ausschliesslich die niedrigste Klasse der Gesellschaft; die Art aber, wie der Künstler in seinen Bildern dieses Volk auffasst und darstellt, kann dem letztern selbst unmöglich schmeicheln, und ist sicher nicht geeignet, dem Künstler und seiner Weise von irgend einer Seite Sympathien zu erwecken, so dass er also, in Widerspruch mit sich selbst verwickelt, seinen Zweck offenbar verfehlen muss.“

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Anmerkungen

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Geck, M. (2001). „Realismus“ und „Zukunftsmusik“ als Kampfbegriffe im Musik-Diskurs der 50er und 60er Jahre. In: Zwischen Romantik und Restauration. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02816-7_4

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-02816-7_4

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