Zusammenfassung
»Es stimmt gar nicht«, kommentierte der Dichter, »daß Narziß in sein eigenes Spiegelbild verliebt war. Wahr ist vielmehr, daß er begabt oder geschlagen war mit einer übermächtigen Weltliebe. Er war geboren und wuchs auf mit einer Zärtlichkeit für die Wesen und Erscheinungen von seinen Fingerspitzen bis in das hinterste Universum. Der junge Narziß war Zu- und Hinneigung seiner Person und wünschte nichts mehr, als die ganze Welt in seine Arme zu schließen. Aber die Welt, die Menschenwelt zumindest, ließ das nicht zu, wich vor ihm weg, gab ihm den Blick der Liebe nicht zurück. Seine Begeisterung vom Dasein und seine Zuneigung zu Bekannt und Unbekannt fanden nirgends einen Halt. Und so mußte er mit der Zeit den Halt an sich allein suchen. Und so verklammerte sich der große Weltliebhaber Narziß an sich selber. Und so ging er zuletzt zugrunde.«2
Diese prononciert neue Lesart des Narziß-Mythos findet sich in Peter Handkes Roman In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus (1997). Erzählt wird die Geschichte eines Apothekers, der sich, in tiefer Sehnsucht nach Wandlung, in einer stillen Nacht mit einem Skifahrer und einem Dichter zu einer Reise auf macht. In ihrem Verlauf muß er äußere und innere Schmerzen und Gefahren überwinden, um, zur Liebe findend, der zu werden, der er ist.
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Notizen
Vgl. H. Hartung, »Eindimensionale Poesie. Zur Lyrik der neuen Subjektivität«, in: Deutsche Lyrik seit 1965, München 1985, 48–65;
H. L. Arnold, Die westdeutsche Literatur 1945 bis 1990, überarb. Ausg., München 1995, 105–17.
P. Ovidii Nasonis Metamorphoses, ed. W.S. Anderson, Korr. Nachdruck der 5. Aufl., Stuttgart u. a. 1993, 64–70. Alle nachfolgenden Metamorphosen-Zitate stammen aus dieser Ausgabe (Übers. v. A.-B. Renger).
Vgl. A.-B. Renger (Hrsg.), Mythos Narziß. Texte von Ovid bis Jacques Lacan, Leipzig 1999, 175, 254, 282 f.
S. Hermlin, Gesammelte Gedichte, Berlin 1990, 38 f.
Vgl. W. Ertl, Stephan Hermlin und die Tradition, Bern u. a. 1977, 27–93, zur Balladenform 87.
N. Erné, Der sinnende Bettler, Karlsruhe 1946, 11.
Die Fragmente der griechischen Historiker (FGrHist), hrsg. v. F. Jacoby. Erster Teil: Genealogie und Mythographie, Neudruck vermehrt um Addenda zum Text, Nachträge zum Kommentar, Corrigenda und Konkordanz, Leiden 1957, 197 f. Vgl. zu Konon in diesem Band G. W. Most.
M. L. Kaschnitz, Neue Gedichte, Hamburg 1957, 52.
R. Ausländer, Die Sichel mäht die Zeit zu Heu. Gedichte1957–1965, Frankfurt a.M. 1985, 256.
R. Hagelstange, Lied der Jahre. Gesammelte Gedichte, Frankfurt a.M. 1961, 82–85; ders., Gast der Elemente. Zyklen und Nachdichtungen 1944–1972, Köln 1972, 204–206.
R. Hagelstange, Spiegel des Narziß. Spiel in fünf Bildern, München 1980, 110.
G. Grass, Gleisdreieck, Neuwied u. a. 1960, 81.
G. Grass, Hundejahre. Roman, Neuwied u. a. 1963, 260–62.
G. Grass, Gedichte und Kurzprosa, Göttingen 1993, 401.
H. Cibulka, Lichtschwalben. Gedichte, Halle (Saale) 1973, 64–68.
H. Cibulka, Arioso. Gedichte, Halle 1962, 34–36, hier 36.
U. Berger, Lächeln im Flug. Gedichte, Berlin u. a. 1975, 85 f.
L. Rathenow, Zangengeburt. Gedichte, München u. a. 1982, 66.
V. D. Volkan/G. Ast, Spektrum des Narzißmus, Göttingen u. a. 1994, 151–58.
U. Grüning, Im Umkreis der Feuer. Gedichte, Berlin 1984, 66.
E. Meister, Flut und Stein, Neuwied u. a. 1962, 87.
Vgl. R. Kiefer, »›O Altertum‹ — Die Mythensprache der ›negativen Theologie‹ (1961– 1972)«, in: ders., Text ohne Worte. Die negative Theologie im Werk Ernst Meisters, Aachen 1992, 179–232.
I. Müller, Wenn ich schon sterben muß. Gedichte, Darmstadt u. a. 1986, 57 f.
K. Kiwus, Von beiden Seiten der Gegenwart. Gedichte, Frankfurt a.M. 1976, 35 f.
M. Simbruk, narcis — 22 Versuche sich in die eigene Haut zu retten. Mit einem Echo von Jochen Winter, Frankfurt a.M. 1980, 15.
D. Meyer, Heute nacht im Dschungel. Fünfzig Gedichte, Berlin 1981, 23.
K. A. Wolken, Die richtige Zeit zum Gehen. Eine Jugend in Gedichten, Düsseldorf 1982, 44.
Il Novellino. Das Buch der hundert alten Novellen, übers. und hrsg. v. János Riesz, Stuttgart 1988, 106–109. — In einen Mandelbaum wurde bei Ovid Phyllis verwandelt; zu dieser Geschichte s. W.H. Roscher, Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Bd. 3,2, s. v. »Phyllis« (Knaack), Leipzig 19897–1909, 2484–87. Zum Mandelbaum (Vorkommen in der Literatur, Semantik, Symbolik) vgl. des weiteren das Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 3, s. v. »Mandelbaum«, Rom u. a. 1971, 146–47.
H. Boëtius, In Zeiten fallenden Laubes. Selbstgedichte, Frankfurt a. M. 1986, 13. Die Datierung stammt vom Autor selbst (Gespräch mit der Autorin am 12.5.2002).
Urfassungen in D. P. Meyer-Lenz, Frau Luna liebt den Mann im Mond. Gedichte und Prosa, Gießen 1998, 58, 63; überarbeitet in Renger (wie Anm. 9), 39 f.
H. Heißenbüttel, Textbuch 8. 1981–1985, Stuttgart 1985, 19 f.
H. Heißenbüttel, »Pro domo. Voraussetzungen«, in: ders., Über Literatur, Olten u. a. 1966, 219–27, hier 222; vgl. auch die »Frankfurter Vorlesungen über Poetik 1963«, ebd., 123– 205.
C. F. Meyer, Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, besorgt von H. Zeller und A. Zäch, Bern 1963, Bd. 1, 190.
F. Ph. Ingold, Echtzeit. Gedichte, München u. a. 1989, 109.
F. Ph. Ingold, Der Autor am Werk, München u. a. 1992, 216–47, zit. nach 220–222, 243. Den Bezug auf Nabokov legt auch die Tatsache nahe, daß Ingold sein Gedicht Aage A. Hansen-Löve gewidmet hat, auf dessen Erörterung von Nabokovs Affinität zur Poetologie und Kunsttheorie Ingold ebd., 228, Anm. 24, verweist.
D. Leupold, Die Lust der Frauen auf Seite 13. Gedichte, Frankfurt a.M. 1994, 61 f.
T. Dückers, Luftpost. Gedichte Berlin-Barcelona, Köln 2001, 101.
H. Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt a. M. 1979, 295.
M. Krüger, Lidas Taschenmuseum. Gedichte, Pfaffenweiler 1981, 26.
K. Krolow, Schönen Dank und vorüber. Gedichte, Frankfurt a.M. 1984, 46 f.
K. Marti, Mein barfüßig Lob. Gedichte, Darmstadt u. a. 1987, 71.
E. W. Skwara, Den Abschied proben. Gedichte, Karlsruhe 1987, 26.
W. Dürrson, Ausleben. Gedichte aus zwölf Jahren, Moos u.a 1988, 37.
F. Schlegel, »Athenäums-Fragmente«, in: Kritische Schriften, hrsg. v. W. Rasch, München 21964, 44.
Th. W. Adorno, Minima Moralia (entstanden 1944–1947, erschienen 1951), Frankfurt a.M. 1970, 57.
Vgl. C. Lasch, Das Zeitalter des Narzißmus, München 1980;
H. Häsing/H. Stubenrauch/T. Ziehe (Hrsg.), Narziß, ein neuer Sozialisationstypus?, Bensheim 1979;
S. M. Johnson, Der narzißtische Persönlichkeitsstil, Köln 1988.
M. Wewerka, Tropfen auf den heißen Stein. Gedichte, Berlin 1981, 55.
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Renger, AB. (2002). »…eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen«? Narziß in der deutschsprachigen Lyrik der Gegenwart (1945–2001). In: Renger, AB. (eds) Narcissus. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02811-2_8
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-02811-2_8
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