Zusammenfassung
Rousseau hat sich zwar häufig als Opfer, als einen bitter Mißverstandenen präsentiert, in einem aber ist sein Erfolg unübersehbar geblieben: Es ist scheint’s unmöglich, ihn nicht als den Musterfall des zu früh Gekommenen, des Romantikers avant la lettre wahrzunehmen, der alles, was er aufschreibt, in ein poetisches oder philosophisches Phantasma seiner selbst übersetzt — ganz gleich, ob man dieses Selbstverhältnis nun aus einer Introspektionsbewegung hervorgehen läßt oder einer »supplementären Logik« unterstellt oder ob man es schlichtweg mit Exhibitionismus, Verfolgungswahn oder Narzißmus identifiziert. Dieses Konvenü der Kritik hat dazu geführt, daß es eine gleichsam kanonische Auffassung Rousseauscher Schriften gibt: Der Einakter Narcisse, 1732 bereits entworfen und nach mehrfachen Revisionen, bei denen Marivaux seine Hände im Spiel hatte, dann 1752 zur Aufführung gebracht, zählt nicht dazu.1
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Notizen
S. Grayson, »Rousseau and the Text as Self«,in: Narcissism and the Text. Studies in Literature and the Psychology of Self, hrsg. v. L. Layton und B. A. Shapiro, New York — London 1986, 78–96 übersieht die Komödie; »the most narcissistic of genres« sei die Rêverie (86).
Rex, »Sexual metaphors on the stage in mid-eighteenth-century Paris: the theatrical background of Rousseau’s Narcisse«, in: Studies on Voltaire & the Eighteenth Century 278 (1990), 265–76 hingegen schlägt mit seiner psychobiographischen Deutung den Bogen vom Text zurück: Der Narcisse verkörpere Rousseaus »own desires for embodiment as female« (268).
Starobinski, L’Œil vivant, Paris 1961, 93–188. Der Abschnitt »Narcisse sans miroir« geht auf einen früheren Artikel zurück: vgl. ders., »Jean-Jacques Rousseau. Reflet, réflexion, projection«, in: CAIEF 11 (1959), 217–30, in dem er sich erstmals der These eines bei Rousseau virulenten »primären Narzißmus« annähert: Dieser sei an Verschmelzungserfahrungen gebunden, gehe also hinter das Spiegelstadium zurück.
Laut S. Faessel, »J. J. Rousseau: un imaginaire de l’exclusion«, in: Études Jean-Jacques Rousseau 12 (2000/01), 9–23, hier 10.
Hierauf verweist R. J. Ellrich, »Rousseaus androgynous dream: The minor works of 1752–62«, in: French Forum 10 (Sept. 1988), 319–39, hier 320 f.
Vgl. J. J. Rousseau, Discours sur les sciences et les arts (1750/ 51), ed. J. Roger, Paris 1971, 54.
L. Vinge, The Narcissus Theme in Western European Literature up to the Early 19th Century, Lund 1967, 190–94 nennt neben den Travestien, die am französischen Hof aufgeführt wurden, Calderón de la Barca, Eco y Narciso (1661) mit einer abundanten Rezeptionsgeschichte im Musiktheater des 18. Jahrhunderts (ebd. 277). Es wäre also denkbar, daß Rousseau das Muster, das erstmals ein Happy End des Narzißmythos bringt, bekannt gewesen ist.
Vgl. hierzu Matzat (wie Anm. 7), 20 ff. Zur Verbindung von amour propre und imaginären Wahrnehmungen vgl. A. Pizzorusso, »La comédie de Narcisse«, in: Présence de J. J. Rousseau. Entretiens de Genève 1962, Paris 1963, 9–27.
Vgl. das Referat von G. Schmidt, »Von Tropfen und Spiegeln. Medienlogik und Wissen im frühen 17. und 18. Jahrhundert«, in: KulturPoetik 2.1 (2002), 1–23.
Zum Geschwister als androgyner Komplementärfigur — was übrigens bereits in einer rationalistischen Variante bei Pausanias 9, 31, 8 im Narzißmythos selbst enthalten ist — vgl. A. Aurnhammer, Androgynie. Studien zu einem Motiv in der europäischen Literatur, Köln — Wien 1986, 81 ff.
Zur neuen Wertung mentaler Repräsentation, mit der Rousseau in einen Gegensatz zur aufklärerischen Überzeugung von der Priorität der Vernunft gerät, vgl. jetzt umfassend P. Sasso, Jean-Jacques Rousseau. Imagination, illusions, chimères, Paris 1999.
Vgl. mit Blick auf Rousseau A. Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 1999, hier 253 f.
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Rommel, B. (2002). Narziß als Androgyn: Die Modellierung des jungen Mannes in Rousseaus Komödie Narcisse (1752/53). In: Renger, AB. (eds) Narcissus. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02811-2_4
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