Zusammenfassung
Diese Beschwörung wurde im Jahre 1979 von Dieter Hildebrandt in Lessing. Biographie einer Emanzipation formuliert. Sie hätte genauso von jedem anderen Biographen stammen können, bleibt doch für alle die gleiche Sehnsucht, daß das Diffuse und Disparate Gestalt annehme, daß aus den so zahlreichen und oft nicht zueinanderpassenden Teilen ein Ganzes entstehe: Der Biograph als Puzzle-Spieler, als Mosaikbildner, als Magier gar, der die Geister bzw. den Geist der Vergangenheit beschwört.
Nimm doch Gestalt an: der große Biographen-Traum, der innige Wunsch dessen, der ein Leben nachschreibt, an denjenigen, der dieses Leben gelebt, vielleicht geführt, und leider verloren hat. Nimm doch Gestalt an: die beschwörende Bitte, dieser andere, frühere möge sich einlassen auf eine Nachwelt, die ja nicht nur neugierig, sondern auch bedürftig ist, nicht allein interessiert, sondern auch spürsüchtig. Lessing einmal wirklich zu fassen bekommen? Nimm doch Gestalt an!1
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Anmerkungen
Hildebranclt, Dieter: Lessing. Biographie einer Emanzipation. München 1979, S. 244.
Hier zitiert nach: Schulten, Monika: Jean Paul Sartres L’idiot de la famille. Ein methodisches Modell der Dichterbiographie. Frankfurt/M. u. a. 1991, S. 23.
Zur Geschichte der deutschen Biographik vgl. Scheuer, Helmut: Biographie. Studien zur Funktion und zum Wandel einer literarischen Gattung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Stuttgart 1979.
Hier zitiert nach: Sengle, Friedrich: Zum Problem der modernen Dichterbiographie. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (DVjs), 26. Jg., 1952, S. 100–111; hier S. 101.
Oppel, Horst: Grundfragen der literarhistorischen Biographie. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (DVjs), 18. Jg., 1940, S. 139–172 hier S. 139f.
Wellek, René/Warren, Austin: Theorie der Literatur. Berlin 1963, S. 64.
Dilthey, Wilhelm: Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing, Goethe, Novalis, Hölderlin [1906]. 14. Aufl. Göttingen 1965. Vgl. dazu auch: Ribbat, Ernst: Leben und Werk. Vorbemerkungen zum Verhältnis von Biographik und Literaturhistorie. In: Zeitschrift für Literaturwissesnchaft und Linguistik (LiLi), Beiheft 10, 1979, S. 65–79.
Vgl. Scheuer 1979, S. 18.
Goethe, Johann Wolfgang von: Berliner Ausgabe, Bd. 19, S. 504. Vgl. dazu auch Scheuer 1979, S. 43–53.
In: Deutsche Lyrik der Neuzeit. Leipzig o. J. 2. verm. Aufl. [1908].
Wolf, Christa: Die Dimension des Autors. Essays und Aufsätze, Reden und Gespräche 1959–1985. Bd. 1. Frankfurt/M. 1990, S. 280. Vgl. dazu Scheuer, Helmut: Biographik und Literaturwissenschaft: Konstruktion und Dekonstruktion. Anna Seghers und ihre Biographen. In: Argonautenschiff. Jahrbuch der Anna-Seghers-Gesellschaft, H. 4, 1995, S. 245–262.
Ricklefs, Ulfert: Leben und Schrift. Autobiographische und biographische Diskurse. Ihre Intertextualität in Literatur und Literaturwissenschaft (Edition). In: editio 9, 1995, S. 37–62 hier S. 37 u. 39.
Vgl. jetzt Noack, Lothar: Christian Hoffmann von Hoffmanswaldau (1616–1697). Leben und Werk. Tübingen 1999; außerdem: von der Lühe, Irmela: Erika Mann. Eine Biographie. Frankfurt/M. 1993 Zu neueren geschichtswissenschaftlichen Qualifikationsarbeiten vgl. die Anm. 22 zum Beitrag von Angelika Schaser in diesem Band.
Sengle, Friedrich: Zum Problem der modernen Dichterbiographie. In: Deutsche Vier-teljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (DVjs), 26. Jg., 1952, S. 100–111; hier S. 100.
Vgl. zuletzt Kurzke, Hermann: Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk. München 1999; Alt, Peter André: Schiller. 2 Bde. München 2000; Zehl Romero, Christiane: Anna Seghers. Eine Biographie. Teil 1. 1900–1947. Berlin 2000.
Vgl. z. B. Hädecke, Wolfgang: Theodor Fontane. Biographie. München 1998; Ziegler, Edda/Erler, Gotthard: Theodor Fontane — Lebensraum und Phantasiewelt. Eine Biographie. Berlin u. a.. 1996; Trilse-Finkelstein, Jochanan: Gelebter Wiederspruch. Heinrich Heine Biographie. Berlin 1997; Hauschild, Jan/Werner, Michael: Der Zweck des Lebens ist das Leben selbst. Heinrich Heine. Eine Biographie. Köln 1997.
Sartre, Jean Paul: Critique de la raison dialectique I (1960), S. 100. Hier nach: Schaben, Ina: Interauktorialität. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (DVjs), Jg. 57, 1983, 681.
Vgl. z. B. Gradmann, Christoph: Historische Belletristik. Populäre historische Biographien in der Weimarer Republik. Frankfurt/M., New York 1993.
Vgl. den Streit in den 70er Jahren um Golo Manns Wallenstein, der 1971 mit dem provokanten Untertitel »Sein Leben erzählt von Golo Mann« erschienen war. Mann, Golo: Geschichtsschreibung als Literatur. In: Horst Rüdiger (Hg.): Literatur und Dichtung. Stuttgart u. a. 1973, S. 107–124; Scheuer, Helmut: Biographische Modelle in der modernen deutschen Literatur. In: ÖZG. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 5. Jg., H. 4, S. 457–487.
Sengle 1952, S. 101.
Ich verweise in diesem Zusammenhang auf meine früheren Arbeiten: Scheuer 1979; Scheuer 1994. Vgl. auch zum theoretischen Problem: Scheuer, Helmut: Biographie. Überlegungen zu einer Gattungsbeschreibung. In: Reinhold Grimm, Jost Hermand (Hg.): Vom Anderen und vom Selbst. Beiträge zu Fragen der Biographie und Autobiographie. Königstein/Ts. 1982, S. 9–29.
Kracauer, Siegfried: Die Biographie als neubürgerliche Kunstform. In: Ders.: Das Ornament der Masse. Essays. (1930) Frankfurt/M. 1977, S. 75–80; vgl. auch Gradmann 1993.
Benjamin, Walter: Wider ein Meisterwerk. In: Ders.: Angelus Novus. Frankfurt/M. 1966, S. 429–436; hier S. 431.
Bertram, Ernst: Nietzsche. Versuch einer Mythologie. 8. Aufl. Bonn 1965, S. 17; vgl. dazu meine Ausführungen in Scheuer 1979, S. 132–141.
Ludwig, Emil: Geschenke des Lebens. Ein Rückblick. Berlin 1931, S. 746; vgl. dazu auch Benjamin 1966.
Vgl. dazu Reulecke, Anne-Kathrin: »Die Nase der Lady Hester«. Überlegungen zum Verhältnis von Biographie und Geschlechterdifferenz. In: Hedwig Röckelein (Hg.): Biographie als Geschichte. Tübingen 1993, S. 89–142 hier S. 129. Dieser Sammelband enthält weitere aufschlußreiche Analysen vor allem zur psychohistorischen Methode.
Brief vom 2. Oktober 1929. In: Lothar Helbling, Victor Bock (Hg.): Friedrich Gundolfs Briefwechsel mit Herbert Steiner und Ernst Robert Curtius. Amsterdam 1963, S. 137.
Kracauer 1930/1977, S. 79.
Kracauer 1930/1977, S. 76.
Gundolf, Friedrich: Goethe [1916]. Berlin 1922, S. 381.
Dilthey 1906/1965, S. 141.
Gundolf, 1916/1922, S. 381.
Kracauer 1930/1977, S. 77.
Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Hamburg 1952, S. 650. Daß die Sehnsucht nach kohärenten Sinnzusammenhängen tatsächlich etwas wie ein anthropologisches Grundmuster sein könnte, hat die Biographie- bzw. Historiographie-Forschung beschäftigt, vgl. z. B. Baumgartner, Hans Michael: Kontinuität und Geschichte. Zur Kritik und Metakritik der historischen Vernunft. Frankfurt/M. 1972. Dazu Straub, Jürgen: Zeit, Erzählung, Interpretation. Zur Konstruktion und Analyse von Erzähltexten in der narrativen Biographieforschung. In: Röckelein 1993, S. 143–183 hier S. 178, Anm. 26.
Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde., 3. Aufl. Frankfurt/M. 1985 hier Bd. 2, S. 206f. Vgl. dazu auch Gestrich, Andreas: Einleitung: Sozialhistorische Biographieforschung. In: Ders., Peter Knock, Helga Merkel: Biographie — sozialgeschichtlich. Göttingen 1988, S. 5–28 hier S. 19.
Gadamer, Hans Georg: Wahrheit und Methode. 4. Aufl. Tübingen 1975, S. 212.
Zur Entelechie-Idee bei Goethe vgl. Neumann, Bernd: Identität und Rollenzwang. Zur Theorie der Autobiographie. Frankfurt/M. 1970, S. 136–149.
Droysen, Johann Gustav: Historik. Hg. von Rudolf Hübner. Darmstadt 1974, S. 285.
Droysen 1974, S. 291.
S. dazu Straub 1993, S. 153.
Meier, Christian: Narrativität, Geschichte und die Sorgen des Historikers. In: Reinhard Koselleck, Wolf-Dieter Stempel (Hg.): Geschichte — Ereignis und Erzählung. München 1973, S. 571–585; hier S. 575.
Jauß, Hans Robert: Geschichte der Kunst und Historie. In: Ders.: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt/M. 1970, S. 208–251; hier S. 230.
Vgl. Klüppelholz, Werner/Scheuer, Helmut (Hg.): Dieter Kühn. Frankfurt/M. 1992; vgl. auch mein Nachwort »Dieter Kühn und die Geschichte«, in: Dieter Kühn: N. Stuttgart 1995, S. 129–150.
Plessen, Elisabeth: Über Schwierigkeiten, einen historischen Roman zu schreiben. Am Beispiel des Kohlhaas. In: Paul Michael Lützeler (Hg.): Deutsche Literatur in der BRD seit 1965. Königstein/Ts. 1980, S. 195–201; hier S. 198.
Lepenies, Wolf: Der Wissenschaftler als Autor. Über konservierende Funktionen der Literatur. In: Akzente, 25. Jg., 1978, H. 2, S. 129–147; vgl. dazu Scheuer 1979, S. 230–248, und ders.: Biographische Romane der 70er Jahre — Kunst und Wissenschaft. In: Der Deutschunterricht, 43 Jg., 1991, S. 32–42.
Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt/M. 1987.
Sieder, Reinhard: Sozialgeschichte auf dem Weg zu einer historischen Kulturwissenschaft. In: Geschichte und Gesellschaft 20, 1994, S. 445–468; hier S. 454.
Eagleton, Terry: Einführung in die Literaturtheorie. Stuttgart 1988, S. 123.
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Scheuer, H. (2001). »Nimm doch Gestalt an« — Probleme einer modernen Schriftsteller/innen-Biographik. In: von der Lühe, I., Runge, A. (eds) Jahrbuch für Frauenforschung 2001. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02797-9_2
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