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Zusammenfassung

Zu spät (ὀψὲ)! Der Chor spricht es in seinem Anruf an den ins Unglück gefallenen Kreon deutlich aus: Kreon ist zu spät gekommen. Welche tragische Bedeutung hat dieses zeitliche Moment des ‚Zu Spät‘ für die Antigone-Tragödie des Sophokles? In bezug auf Kreon ergeben sich sogleich mehrere Fragen: Wem oder was gegenüber kommt Kreon zu spät? Wer oder was ist es, das ihm zeitlich voraus ist und sein Scheitern verursacht? Sind es die Götter, andere Figuren wie Antigone oder allgemein das Handlungsgeschehen? Scheitert Kreon an den Grenzen seines menschlichen Daseins, die von den Göttern gezogen werden, oder an den Begrenzungen menschlichen Lebens in Zeit und Raum? Die grundlegende These dazu ist, daß die Tragödie in eine Spannung zwischen diesen beiden Perspektiven eingebunden ist, die sich zunächst in der Spannung zwischen der Raum- und Zeitstruktur und den Aussagen der Figuren zeigt. Es soll analysiert werden, wie aus dieser Spannung als Ambivalenz oder Widerspruch die Spannung im Sinne von suspense erwächst.

οἴμʹ ὠς ἔοικας ὀψὲ τὴν δίκην ἰδε?ν.

O mir!

Was mußtest du so spät das Rechte sehen!

V. 1270

Die sophokleischen Tragödienzitate sind generell der Ausgabe entnommen: Sophoclis Fabulae. Recognoverunt brevique adnotatione critka instruxerunt, hrsg. v. H. Lloyd-Jones u. N.G. Wilson, Oxford University Press (Scriptorum classicorum bibliotheca Oxoniensis): Oxford 1990. Den Zitaten nachgestellt werden jeweils die deutschen Übersetzungen von Wolfgang Schadewaldt: Sophokles, Tragödien, hrsg. v. Wolfgang Schadewaldt, übers. v. Wolfgang Schadewaldt u. Ernst Buschor, Artemis: Zürich/Stuttgart 1968.

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Notizen

  1. Karl Reinhardt, Sophokles, Klostermann: Frankfurt a.M. 31947 (11933), S. 81.

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  2. Hans-Thies Lehmann sieht den Botenbericht als das konstituierende theatralische Moment der griechischen Tragödie an: „Die Tragödie verläßt das Stadium des kultischen Chorliedes damit, daß in einem Spiel von Stimmen der Protagonist auf der Bühne in die Lage kommt, die Stimme des anderen hören zu müssen, die ihm sein Schicksal verkündet. […] Aber der eigentliche Botenbericht spitzt ja nur zu, was die tragische Szene überhaupt zum ersten Male als Grundmodell der Realität ausgebildet, ästhetisch bewältigt hat: das Hören.“ Vgl. Hans-Thies Lehmann, Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie, Metzler: Stuttgart 1991, S. 44–46.

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  3. Oliver Taplin hat gezeigt, daß man anderen griechischen Tragödientexten durchaus viele vorderszenische sprachlose Aktionen entnehmen kann. Oliver Taplin, Greek Tragedy in Action, Routledge: London 1993 (11978).

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  4. An dieser Stelle ist schon Einspruch zu erheben gegen Interpreten wie z.B. George Steiner, die Antigone zunächst ganz auf den ewigen, zeitlosen Bereich verpflichten wollen, von dem her sie handelt und spricht und der einen Kontrast bildet zu dem immanenten zeitlichen Bereich, den Kreon mit seinem Erlaß vertritt. Daß Antigone von der Zeit als einer längeren Zeit (πλείωνχρόνος) spricht, ist keinesfalls eine untertreibende Beschreibung der „Ewigkeit des Todes“ (Hermann Rohdich), sondern läßt auf ein Verständnis Antigones von dem Bereich der Götter und des Todes schließen, dem eine Vorstellung von einer Ewigkeit qua Zeitlosigkeit fremd ist. Vgl. Gerhard Müller, Sophokles. Antigone, Carl Winter Universitätsverlag (Wissenschaftliche Kommentare zu griechischen und lateinischen Schriften): Heidelberg 1967, S. 37 f.

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  5. Hermann Rohdich, Antigone. Beitrag zu einer Theorie des sophokleischen Helden, Carl Winter Universitätsverlag (Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften, Reihe 2, Bd. 69): Heidelberg 1980, S. 33 ff.

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  6. George Steiner, Antigones, Clarendon Press: Oxford 1984, S. 247 ff. (Übers.: George Steiner, Die Antigonen. Geschichte und Gegenwart eines Mythos, übers. v. Martin Pfeiffer, DTV (dtv 4536): München 1990, S. 307 ff.)

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  7. Charles Segal, Tragedy and Civilization. An Interpretation of Sophocles, Harvard University Press: Cambridge/London 1981, S. 186.

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  8. Diese Bezeichnung geht auf Goethe zurück. Vgl. Johann Wolfgang v. Goethe, Sämtliche Werke (Münchner Ausgabe), Bd. 19: Johann P. Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, hrsg. v. Heinz Schlaffer, Hanser: München 1986, S. 544.

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  9. Vgl. Michael Theunissen, „Die Zeitvergessenheit der Metaphysik. Zum Streit um Parmenides, Fr. 8.5–6a“ (Erstveröffentlichung in: Zwischenbetrachtungen. Im Prozeß der Aufklärung. Jürgen Habermas zum 60. Geburtstag, hrsg. v. Axel Honneth u.a., Suhrkamp: Frankfurt a.M. 1989), in: ders., Negative Theologie der Zeit, Suhrkamp (stw 938): Frankfurt a.M. 1991, S. 89–130, bes. S. 91–95.

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  10. Schon Hölderlin hat das Verhältnis Antigone — Kreon bestimmt als „[…] gleich gegeneinander abgewogen und nur der Zeit nach verschieden, so daß das eine vorzüglich darum verlieret, weil es anfängt, das andere gewinnet, weil es nachfolgt.“ Er vergleicht die „[…] Gruppierung solcher Personen […] mit einem Kampfspiele von Läufern […], wo der, welcher zuerst schwer Othem holt und sich am Gegner stößt, verloren hat, […]“ Leider werden diese Thesen nicht weiter ausgeführt. Vgl. Friedrich Hölderlin, „Anmerkungen zur Antigonae“, in: ders., Sämtliche Werke (Große Stuttgarter Ausgabe), Bd. 5, hrsg. v. Friedrich Beissner, Kohlhammer: Stuttgart 1962, S. 265–272.

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  11. Damit schlage ich mich auf die Seite des „naiven Hörers“, der, wie Gerhard Müller meint, Sophokles auf den Leim geht, indem er den aufgebauten Schein der möglichen Rettung als wahrhaftig annimmt. Der Irrtum scheint mir dagegen auf der Seite von Müller zu liegen, der selbstverständlich davon ausgeht, daß die Prophezeiung in der fiktionalen Realität als göttlich verkündete Wahrheit anzusehen ist. Er unterstellt Sophokles die Intention, seine tiefe Religiösität in der Tragödie zum Ausdruck zu bringen. Ich denke, die dramatische Struktur drängt geradezu auf eine säkulare Betrachtung der Lage hin. Sie reißt eine Kluft auf zwischen der religiösen Prophezeiung und der aufgebauten säkularen Spannung. Vgl. Gerhard Müller, a.a.O., S. 234; Rohdich, a.a.O., S. 217 f.; Joachim Goth, Sophokles. Antigone. Interpretationsversuche und Strukturuntersuchungen, (Diss.) Tübingen 1966, S. 174 ff.

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  12. H.D.F. Kitto, „Menschliches und göttliches Drama“, in: Sophokles, hrsg. v. Hans Diller, Wissenschaftliche Buchgesellschaft (Wege der Forschung, Bd. XCV): Darmstadt 1967, S. 56–78

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  13. Peter Riemer, Sophokles, Antigone — Götterwille und menschliche Freiheit, Akademie der Wissenschaften und der Literatur (Abhandlungen der geiste-sund sozialwissenschaftlichen Klasse, 1991,12): Mainz/Stuttgart 1991.

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  14. Käte Hamburger bezieht die dramatische Funktion der Teiresiasszene vor allem auf Antigone. Sie interpretiert den Spruch des Teiresias in dieser Hinsicht nicht als endgültige Prophezeiung, sondern als Drohung, die zunächst das Gegenteil des ‚Zu Spät‘ bedeutet, die Rettungsmöglichkeit. Indem die mögliche Rettung gegenüber dem Selbstmord Antigones zu spät kommt, wird der „[…] Primat der Todesbereitschaft herausprofiliert.“ Hamburgers Interpretation mündet meines Erachtens entgegen ihrer ausdrücklichen Intention in einer wesentlich psychologischen Deutung, die der Figur Antigone einen hinterszenischen mentalen Wandel unterstellt, in dem der Todeswille gegenüber dem im vierten Epeisodion zum Ausdruck gebrachten Lebenswillen triumphiert. Vgl. Käte Hamburger, Von Sophokles zu Sartre. Griechische Dramenfiguren antik und modern, Klett (Sprache und Literatur 1): Stuttgart 1962, S. 189–212, bes. S. 196–199.

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  15. Vgl. Wolfgang Schadewaldt, Sophokles und das Leid, Eduard Stichnote (Potsdamer Vorträge 4): Potsdam 1944, S. 24

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Heuner, U. (2001). Antigone. In: Tragisches Handeln in Raum und Zeit. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02775-7_2

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-02775-7_2

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