Zusammenfassung
Die Konstruktion von Weiblichkeit, wie sie Künstler und Denker der Jahrhundertwende erdachten, hat widersprüchlichen Charakter. Einerseits steht Weiblichkeit dem Allgemeinen entgegen: das Allgemeine, Normale ist der Mann, der gesellschaftskonstituierend und normbildend gedacht wird. Von seiner Normalität weicht die Frau als das Besondere, erforschenswert Unbekannte ab. In der Gegenüberstellung von Maßstab und Abweichung aber wird ein Gefahrenpotential denkbar. Die Frau ist etwa diejenige, die durch ihre Sinnlichkeit die Norm irritieren, den Mann von seiner Normalität abbringen kann. Indem sie zugleich von weiten Bereichen des Lebens ausgeschlossen wird, ist die Frau im allgemeinen wenig präsent und bleibt damit als Individuum unbekannt. Dies eröffnet ein weites Feld für Vermutungen, Vorstellungen und Projektionen. Andererseits — und dies ist Widerspruch und Konsequenz zugleich — wird die Frau allgemein betrachtet, als Wesen und Phänomen, als Personifikation der Idee von Weiblichkeit. Kategorien wie Individualität oder Charakter bleiben dem Mann vorbehalten. Die Wesenhaftigkeit der Frau aber bleibt dem männlichen Individuum rätselhaft. Dieses Grundelement bestimmt denn auch — nicht nur bei Sigmund Freud — die Beziehung zwischen männlichem Individuum und weiblichem Wesen.
»Doch vergeßt nicht, daß ihr mich gerufen habt in die Welt, daß euch geträumt hat von mir, der anderen, dem anderen, von eurem Geist und nicht von eurer Gestalt, der unbekannten, die auf euren Hochzeiten den Klageruf anstimmt, auf nassen Füßen kommt und von deren Kuß ihr zu sterben fürchtet, so wie ihr zu sterben wünscht und nie mehr sterbt: ordnungslos, hingerissen und von höchster Vernunft.«
Ingeborg Bachmann, Undine geht1
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Notizen
Baudelaire, Les Fleurs du Mal. Zit. nach Baudelaire 1997, S. 292 (Hervorhebung im Original, Übersetzung ebda., S. 293).
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Unseld, M. (2001). Das Andere, das Fremde. Frau und Tod als Grenzerfahrung. In: »Man töte dieses Weib!«. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02737-5_6
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