Zusammenfassung
»Der Begriff der Entscheidung ist kompromittiert. Er hat sich eines Gebrauchs fähig erwiesen, der ihn heute verdächtig macht. Romantiker der Ausnahmesituation haben ihn zum Grundbegriff ihres Denkens gemacht; er ist die tragende kategoriale Säule des sogenannten ›Dezisionismus‹.«1 Es gibt ein verbreitetes Unbehagen, das dazu beigetragen hat, die Würdigung wichtiger Einsichten des Dezisionismus mit einem oft undifferenzierten und v.a. politisch motivierten Tabu zu belegen. Dies gilt — neben den Denkern des Konsensus — zumal für den Liberalismus in diesem Jahrhundert, als dessen schärfster Gegner, ja »Feind«, der Dezisionismus vielen erscheint. Daß dies ein nicht nur intellektuell unredliches Vorgehen, sondern sogar ein gravierendes Versäumnis ist, das gerade dem Liberalismus wichtige Aufklärung über sich selbst vorenthält, soll im folgenden gezeigt werden; und ebenso, daß dies unverändert auch dann noch gilt, wenn die Grenzen herausgearbeitet und berücksichtigt werden, an die der Dezisionismus selbst stößt. Entscheidend wird dabei sein, Dezisionismus nicht auf eine seiner verschiedenen Varianten zu verengen. Es gibt nicht nur den Dezisionismus des Carl Schmitt. Ebensowenig ist er auf ein politisches Programm oder einen politischen Wert zu reduzieren. Dezisionismus soll vielmehr in einem sehr weiten Sinn als eine Position bzw. Einsicht verstanden werden, die auf ein sehr grundlegendes Problem der praktischen Philosophie eine folgenreiche Antwort gibt.
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Notizen
Lübbe, Hermann, Zur Theorie der Entscheidung, in: ders., Theorie und Entscheidung. Studien zum Primat der praktischen Vernunft, Freiburg 1971, S. 7–31, hier S. 7.
Bolsinger, Eckard, Was ist Dezisionismus? Rekonstruktion eines autonomen Typs politischer Theorie, in: Politische Vierteljahresschrift, 39. Jg, Heft 3, September 1998, S. 471–502, hier S. 471; Zitate mit Seitenangaben im Text im folgenden aus diesem Aufsatz.
Vgl. ausführlicher im folgenden Kapitel zu Carl Schmitt.
Schmitt, Carl, Der Begriff des Politischen, Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 1991, S. 26.
Ottmann, Henning, Carl Schmitt, in: Ballestrem, Karl Graf / Ottmann, Henning (Hrsg.), Politische Philosophie des 20. Jahrhunderts, München 1990, S. 61–87, hier S. 67.
Ottmann, Carl Schmitt, a.a.O., S. 63, Hvbg. H.O.
Schmitt, Carl, Gesetz und Urteil. Eine Untersuchung zum Problem der Rechtspraxis [1912], München 1969, S. 49.
Esser, Josef, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung. Rationalitätsgrundlagen richterlicher Entscheidungspraxis, Frankfurt a.M. 1972.
Bolsinger, Dezisionismus, a.a.O., S. 475; Bolsinger verweist hier auf »Der Sinn der Wertfreiheit« und »Wissenschaft als Beruf«-allerdings in verfälschender und verkürzter Art und Weise, wie unten noch zu verdeutlichen ist.
Schmitt, Carl, Der Hüter der Verfassung, [1931], Berlin 1985, S. 45 und 136f.
Bolsinger, Dezisionismus, a.a.O., S. 477.
Schmitt, Carl, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, [1922], Berlin 1993, S. 13.
Schmitt, Politische Theologie, a.a.O., S. 14.
Schmitt, Politische Theologie, a.a.O., S. 16.
Schmitt, Politische Theologie, a.a.O., S. 37f.
Schmitt, Carl, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, Hamburg 1934, S. 7.
Bolsinger, Dezisionismus, a.a.O., S. 482.
Ottmann, Carl Schmitt, a.a.O., S. 66.
Derrida, Jacques, Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«, Frankfurt a.M. 1991; Zitate mit Seitenangaben im Text im folgenden aus diesem Aufsatz.
Benjamin, Walter, Zur Kritik der Gewalt, in: ders., Gesammelte Schriften, Band II. 1, Frankfurt a.M. 1977.
Montaigne, Essais III, XIII, in: ders., Oeuvres, Paris 1950, S. 1203, zit.: Derrida, S. 25.
In diesem Zusammenhang wird recht gut deutlich, was »Dekonstruktion« für Derrida bedeutet: Verantwortung dem Besonderen gegenüber und Erinnerung an die Grenzen der Begriffe Gerechtigkeit, Recht, Gesetz, an die Grenzen der bestehenden Werte, Normen etc. Derridas »Gerechtigkeit« ist als »unerreichbare« kein materiales Gut, sondern weit eher »Prinzip des Denkens«.
Benjamin, Walter, Zur Kritik der Gewalt, in: ders., Gesammelte Schriften, Band II. 1, Frankfurt a.M. 1977; Benjamins Position wird im folgenden weitgehend mit Derrida und in dessen Interpretation wiedergegeben, weil hier in erster Linier dessen Argumentation nachgezeichnet werden soll. Die Seitenzahlen im Text beziehen sich weiterhin auf Derridas Aufsatz.
Benjamin, Kritik der Gewalt, a.a.O., S. 190, zit.: Derrida, Gesetzeskraft, a.a.O., S. 98.
Benjamin, Kritik der Gewalt, a.a.O., S. 190, zit.: Derrida, Gesetzeskraft, a.a.O., S. 98.
Benjamin, Kritik der Gewalt, a.a.O., S. 196, zit.: Derrida, Gesetzeskraft, a.a.O., S. 102.
Plessner, Helmuth, Die verspätete Nation, Gesammelte Schriften VI, Frankfurt a.M. 1982, S. 185ff.
Kersting, Wolfgang, Recht, Gerechtigkeit, demokratische Tugend, Frankfurt a.M. 1997, S. 463.
Lübbe, Hermann, Zur politischen Theorie der Technokratie, in: ders., Theorie und Entscheidung. Studien zum Primat der praktischen Vernunft, Freiburg 1971, S. 32–53, S. 33.
Lübbe, Theorie der Entscheidung, a.a.O., S. 11.
Lübbe, Theorie der Entscheidung, a.a.O., S. 9.
Lübbe, Theorie der Entscheidung, a.a.O., S. 12f.
Lübbe, Theorie der Entscheidung, a.a.O., S. 21.
Lübbe, Hermann, Rationalisierung der Politik, in: ders., Theorie und Entscheidung. Studien zum Primat der praktischen Vernunft, Freiburg 1971, S. 54–61, hier S. 54f.
Lübbe, Technokrate, a.a.O., S. 14.
Lübbe, Technokratie, a.a.O., S. 14f.
Hennis, Wilhelm, Max Webers Fragestellung. Studien zur Biographie des Werks, Tübingen 1987, S. 216.
Hennis, Fragestellung, a.a.O., S. 228.
Gölz, Walter, Begründungsprobleme der praktischen Philosophie, Stuttgart-Bad Canstatt 1978, S. 55.
Kersting, Recht, Gerechtigkeit, demokratische Tugend, a.a.O., S. 456.
Lübbe, Hermann, Carl Schmitt liberal rezipiert, in: Quaritsch, Helmut (Hrsg.), Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt, Berlin 1988, S. 427–440, hier S. 433.
Lübbe, Hermann, Philosophie nach der Aufklärung. Von der Notwendigkeit pragmatischer Vernunft, Düsseldorf / Wien 1980, S. 166.
Lübbe, Philosophie nach der Aufklärung, a.a.O., S. 207.
Lübbe, Theorie der Entscheidung, a.a.O., S. 30f.
Aristoteles, Metaphysik, Erster Halbband, hrsg. v. H. Seidl, Hamburg 1989, Buch II, Kapitel 1, 994b.
Derrida, Gesetzeskraft, a.a.O., S.30.
Höffe, Rationalität, Dezision oder praktische Vernunft, in: ders., Ethik und Politik. Grundmodelle und -probleme der praktischen Philosophie, Frankfurt a.M. 1992, S. 373.
Vgl. dazu Wellmer, Albrecht, Menschenrechte und Demokratie, in: Gosepath, Stefan / Lohmann, Georg (Hrsg.), Philosophie der Menschenrechte, Frankfurt a.M. 1998, S. 265–291.
Höffe, Rationalität, Dezision oder praktische Vernunft, a.a.O., S. 346.
Vgl. dazu Höffe, Otfried, Strategien der Humanität. Zur Ethik öffentlicher Entscheidungs-prozesse, Freiburg / München 1975.
Wittgenstein, Ludwig, Über Gewißheit, in: ders., Werkausgabe Band 8, Frankfurt a.M., S. 113–257, hier §§ 394 und 204 (S. 197 und 160f.).
Vgl. Williams, Bernard, Ethik und die Grenzen der Philosophie, Hamburg 1999.
Weber, Max, Politik als Beruf, in: ders., Gesammelte Politische Schriften, Tübingen 1988, S. 505–560, hier S. 559.
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Schwaabe, C. (2001). Liberalismus und Dezisionismus. In: Ballestrem, K.G., Gerhardt, V., Ottmann, H., Thompson, M.P. (eds) Politisches Denken Jahrbuch 2001. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02726-9_8
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