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Die perspektivische Konstitution des Politischen

Überlegungen zu Hannah Arendts Wirklichkeitsbegriff

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Politisches Denken Jahrbuch 2001

Zusammenfassung

Kaum etwas scheint im politischen Alltagsgeschäft wie auch in der Wissenschaft, die sich um diese Sphäre bemüht, so unbestritten wie die Behauptung, der Begriff des Interesses bestimme die politische Wirklichkeit in allen ihren Facetten. Menschen sind bedürftige Wesen, die darauf sinnen, sich zu verschaffen, was ihrer Hinfälligkeit aufhilft. Wenn man daher sagen kann, welchen Gruppen einer Gesellschaft es woran mangelt, welche Mittel zur Befriedigung dieser Interessen zur Verfügung stehen und wie die Machtmittel verteilt sind, dann weiß man, wie es um ein Land bestellt ist. Die politische Wirklichkeit besteht daher — versteht man sie unter der leitenden Hinsicht des Interesses — aus einen berechenbaren Geflecht von gleich- und gegenläufigen machtgestützten Bestrebungen, die in ihrer Gesamtheit darauf abzielen, dieser oder jener Gruppierung von Akteuren gewisse Vorteile zu verschaffen.

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Notizen

  1. Wether the British Government inclines more to Absolute Monarchy, or to a Republic. In: David Hume. Essays. Moral, Political, and Literary. Ed. with a Foreword, Notes and Glossary by E.F. Miller. With an apparatus of variant readings from the 1889 edition by T.H. Green and T.H. Grose. Revised edition. Indianapolis 1987. S. 47–53. Hier: S. 51. An anderer Stelle formuliert Hume ähnlich: »Nothing appears more surprizing […] than the easiness with which the many are governed by the few […] as FORCE is always on the side of the governed, the governors have nothing to support them but opinion. It is therefore, on opinion only that government is founded; and this maxim extends to the most despotic and military governments, as well as to the most free and most popular« (Of the First Principles of Government. In: a.a.O. S. 32–36. Hier: S. 32); vgl. auch: A Treatise of Human Nature. Edited, with an Analytical Index, by L.A. Selby-Bigge. Second edition with text revised and variant readings by P.H. Nidditch. Oxford 1981. S. 546. Politisch bedeutsam wird diese Konzeption im sogenannten Federalist, wo sich der berühmte Satz findet, daß alle Regierung auf der Meinung beruhe (Alexander Hamilton, James Madison, John Jay: The Federalist or, The New Constitution. London/New York 1961. S. 257); vgl. hierzu Verf.: Das Madeville-Dilemma. Untersuchungen zum Verhältnis von Politik und Moral. Köln 1997. Hannah Arendts politisches Denken knüpft an den Federalist an; vgl. Wahrheit in der Politik. In: H.A.: Wahrheit und Lüge in der Politik. Zwei Essays. München 1972. S. 53 (erstmals englisch ›Truth and Politics‹ 1967); Über die Revolution. Zürich/München 1972. 3. Auflg. S. 119 (erstmals englisch ›On Revolution‹ 1963) (=ÜR); Macht und Gewalt. München 1970. S. 42 (erstmals englisch ›On Violence‹ 1970).

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  2. Daß Hannah Arendt von Heidegger beeinflußt ist, steht gewiß außer Frage. Strittig ist hingegen das Ausmaß. Vgl. hierzu E. Vollrath: Hannah Arendt und Martin Heidegger. In: A. Gethmann-Siefert, O. Pöggeler (Hrsg.): Heidegger und die praktische Philosophie. Frankfurt/M. 1988. S. 357–372; neuerdings auch D.R. Villas instruktives Buch: Arendt and Heidegger. The Fate of the Political. Princeton 1996. Der im folgenden vorgenommene Vergleich soll zu der Debatte um die Beziehung Arendts zu Heidegger nichts beitragen. Er dient vielmehr ausschließlich der Verdeutlichung der Arendtschen Position.

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  3. H. Arendt: The Life of the Mind, 2 vols, vol. 1: Thinking (= LM1). New York/London 1978. S. 19.

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  4. Vgl. hierzu D.J. Opstaele: Politik, Geist und Kritik. Eine hermeneutische Rekonstruktion von Hannah Arendts Philosophiebegriff. Diss. Köln 1997. Würzburg 1999. S. 72.

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  5. LM1, S. 19. Vgl. auch ÜR, S. 19.

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  6. LM1, S. 25.

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  7. M. Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen 1972, 12. Auflg. (=SuZ). S. 28.

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  8. SuZ, S. 28.

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  9. SuZ, S. 33; vgl. § 44: »Die Aussage ist wahr, bedeutet: sie entdeckt das Seiende an ihm selbst. Sie sagt aus, sie zeigt auf, sie ›läßt sehen‹ (ἀπόφανσις) das Seiende in seiner Entdecktheit. Wahrsein (Wahrheit) der Aussage muß verstanden werden als entdeckend-sein« (SuZ, S. 218).

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  10. Die Lehre vom Schein wird dann in der Einführung in die Metaphysik (Tübingen 1987, 5. durchges. Auflg. [=EM]) wieder aufgenommen. Hier heißt es: Es sind drei Weisen des Scheins zu unterscheiden: (1) der Schein »als Glanz und Leuchten«, (2) der Schein als der »Vor-Schein, zu dem etwas kommt«, (3) der Schein als bloßer Schein, als »Anschein, den etwas macht« (EM, S. 76). In seiner dritten Bedeutung stimmt diese Explikation des Scheins mit der Angabe aus Sein und Zeit überein. Die erste Bedeutung hingegen bezeichnet das Phänomenale überhaupt, die zweite das, was Sein und Zeit die Erscheinung nennt. Vgl. die gleichlautenden Bestimmungen in Heideggers Marburger Einführung in die phänomenologische Forschung (Vorlesung im WS 23/24 — in der Gesamtausgabe hg.v. W.v. Herrmann-II. Abt.: Vorlesungen 1919–44. Bd. 17. Frankfurt/M. 1994. S. 64).

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  11. Im Ursprung des Kunstwerks (In: M. Heidegger: Holzwege. Frankfurt/M. 1972, 5. Auflg. S. 7–68) heißt es recht dunkel, im Seienden als Ganzen finde sich eine Lichtung, in welche heraustretend das Seiende sich entberge (S. 41). Es folgt freilich sofort der unausweichliche Hinweis auf das sich Versagende oder sich im Verstellen verbergenede Seiende, welches sich vor anderes schiebt und so dafür sorgt, daß eines das andere verschleiert. Dann heißt es: »Die Verbergung kann ein Versagen sein oder nur ein Verstellen. Wir haben nie geradezu die Gewißheit, ob sie das Eine oder das Andere ist. Das Verbergen verbirgt und verstellt sich selbst« (S. 42). In seinem Aufsatz Heideggers Lehre von der Wahrheit hat Ernst Tugendhat das Problem, wie sich das ἀληθ∊ὐ∊ιν vom puren ἀποφαίν∊συ̊αι unterscheiden lasse, thematisiert. Seine These lautet: »[…] dadurch, daß und wie er [Heidegger] das Wort Wahrheit zu seinem Grundbegriff macht, [übergeht er] das Wahrheitsproblem gerade […] Daß er die Erschlossenheit schon an und für sich Wahrheit nennt, führt dazu, daß sie gerade nicht auf Wahrheit bezogen, sondern gegen die Wahrheitsfrage abgeschirmt wird« (E. Tugendhat: Heideggers Idee von Wahrheit. In: O. Pöggeler [Hrsg.]: Heidegger. Perspektiven zur Deutung seines Werkes. Königstein 1984. S. 286–297. Hier: S. 296). Denn wenn alles sich Entbergen ein Ans-Licht-Treten des Seienden wäre, dann gäbe es keinen Anlaß, zwischen Unwahrheit und Wahrheit zu unterscheiden, die Wahrheitsfrage müßte also gar nicht gestellt werden (ebd., S. 292).

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  12. Im § 44 von Sein und Zeit geht Heidegger kurz und recht abschätzig auf den philosophischen Skeptizismus ein. Er schreibt: »Ein Skeptiker kann nicht widerlegt werden, so wenig wie das Sein der Wahrheit ‘bewiesen’ werden kann. Der Skeptiker, wenn er faktisch ist, in der Weise der Negation der Wahrheit, braucht auch nicht widerlegt zu werden. Sofern er ist und sich in diesem Sein verstanden hat, hat er in der Verzweiflung des Selbstmords das Dasein und damit die Wahrheit ausgelöscht« (SuZ, S. 229).

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  13. Insgesamt unterscheidet Heidegger vier Bedeutungen: (1) Ansehen als Ruhm, (2) die Ansicht, die etwas bietet, (3) den bloßen Schein, (4) die Meinung, die jemand hegt (EM, S. 79).

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  14. EM, S. 79.

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  15. Vgl. EM, S. 83: »Weil der Schein sich selbst wesenhaft im Verdecken und Verstellen verstellt, deshalb sagen wir mit Recht: der Schein trügt. Dieser Trug liegt am Schein selbst. Nur deshalb, weil der Schein selbst trügt, kann er den Menschen betrügen und ihn dadurch in eine Täuschung versetzen«.

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  16. EM, S. 85.

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  17. EM, S. 146.

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  18. Mit Bezug auf Nietzsche stellt Heidegger fest: »Wie aber, wenn alle Schranken zwischen Wahrheit und Unwahrheit fallen und alles gleichviel gilt, d.h. gleich nichtig ist? Dann wird der Nihilismus zur Wirklichkeit« (M. Heidegger: Nietzsche, 2 Bde. Pfullingen 1961. 1. Bd. S. 499). Um diese Konsequenz zu vermeiden, bemüht er sich in seiner Nietzsche-Interpretation, den Schein gleichsam in der Wahrheit aufzuheben und damit Nietzsche vor den Konsequenzen seines radikalen Perspektivismus zu retten, wenn er feststellt: »Die Realität, das Sein, ist der Schein im Sinne des perspektivischen Scheinenlassens. Aber zu dieser Realität gehört nun zugleich die Mehrheit von Perspektiven und so die Möglichkeit des Anscheins und dessen Festmachung, d.h. die Wahrheit als eine Art von Schein im Sinne des ›bloßen‹ Scheins. Wird die Wahrheit als Schein genommen, d.h. als bloßer Schein, als Irrtum, dann besagt dieses: Wahrheit ist der zum perspektivischen Scheinen notwendig gehörige, festgemachte Schein, der Anschein« (ebd., S. 248).

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  19. Metaphysikkritisch kann man Heideggers Ausführungen lediglich insofern nennen, als er nicht mehr annimmt, hinter dem Seienden sei ein Seindes aufzuspüren; vgl. M. Baur: Die Einleitung zu ›Sein und Zeit‹ und die Frage nach der phänomenologischen Methode: Versuch einer Erklärung. In: Perspektiven der Philosophie 24(1998). S. 225–248. Hier: S. 235.

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  20. Vgl. in diesem Zusammenhang E. Vollraths Kennzeichnung des Verhältnisses der Arendtschen Auffassung zu der Heideggers: Hannah Arendt und Martin Heidegger. A.a.O. Hier heißt es, Heidegger fasse den Begriff des Phänomens gerade nicht so, daß alles Erscheinen ein Erscheinen vor einem anderen und für einen anderen sei, »daß also dieser Jemand in das Erscheinungsgeschehen hineingehört, welches schon dadurch mit einem Moment von Pluralität und Differenz versehen ist« (S. 361).

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  21. In seiner — von M.S. Frings in der Frankfurter Gesamtausgabe herausgegebenen — Freiburger Parmenides-Vorlesung (WS 42/43) weist Heidegger ausdrücklich auf die griechische Polis als den Ort, »um den sich […] alles dreht, was an Seiendem dem Griechentum erscheint« (Gesamtausgabe. II. Abt.: Vorlesungen 1923–1944. Bd. 54. Frankfurt/M. 1982. S. 132).

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  22. Vgl. SuZ, S. 222.

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  23. Vita activa oder Vom tätigen Leben. Stuttgart 1960 (=VA). S. 56.

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  24. VA, S. 57.

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  25. Zu Beginn von Vita activa stellt Hannah Arendt in aller wünschenswerten Deutlichkeit klar, daß sie mit dieser Schrift keine politische Anthropologie liefere. Ihre Begründung lautet kurz zusammengefaßt: Aus der spezifischen Weise menschlicher Bedingtheit, i.e. des Bedingtseins und des Sich-Bedingens, folgt: das Wesen der Dinge läßt sich bestimmen, nicht das des Menschen. Der Mensch hat kein Wesen, das sich auffinden ließe. Er ist zwar in seinem Was als natürlich-organisches Wesen zu fassen, nicht aber in seinem Wer. In seinem Wer ragt der Mensch dergestalt über sein Was hinaus, daß alle Anthropologie scheitern muß. Grund hierfür ist die Tatsache, daß kein absolutes Bedingtsein des Menschen vorliegt (VA, S. 16 ff.). Angesichts dieser Bestimmungen ist es schwer verständlich, wie man Arendts Politiktheorie anthropologisch nennen kann — so etwa O. Höffe: Politische Ethik im Gespräch mit Hannah Arendt. In: P. Kemper (Hrsg.): Die Zukunft des Politischen. Ausblicke auf Hannah Arendt. Frankfurt/M. 1993. S. 13–33. Hier: S. 18; S. Benhabib: Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne. Übers. v. K. Wördemann. Mit einem Nachwort v. O. Kallscheuer (erstmals engl. 1996). Hamburg 1998. S. 304.

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  26. In der Diskussion der Arendtschen Politiktheorie hat man einen Gegensatz zwischen zwei differenten Handlungsbegriffen entdecken wollen, der eine fasse das Erscheinen im Raum der öffentlichkeit als agonales Geschehen, der andere betone den Gedanken der Partizipation in gemeinschaftlicher Deliberation. Vgl. B. Parekh: Hannah Arendt and the Search for a New Political Philosophy. Atlantic Highlands, New Jersey 1981. S. 178; M.P. d’Entrèves: The Political Philosophy of Hannah Arendt. London/New York 1994. S. 84, 153 ff.; S. Benhabib: Hannah Arendt. A.a.O. S. 202/203. Im Gegensatz zu diesen Auslegungen hat D.R. Villa überzeugend dargelegt, daß hier nicht zwei in Opposition stehende, sondern zwei komplementäre Handlungsbegriffe vorliegen (a.a.O. S. 99).

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  27. Vgl. H. Arendt: The Concept of History. Ancient and Modern. In: H.A.: Between Past and Future. Eight Exercises in Political Thought. Enlarged Edition (erstmals 1961, erweiterte Fassung erstmals 1968) (=BPF). New York 1985. S. 41–90. Hier: S. 84; vgl. auch VA, S. 228.

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  28. BPF, S. 85.

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  29. Den Dezisionismusvorwurf hat exemplarisch M. Jay (Hannah Arendt: Opposing Views. In: Partisan Review 45[1978]) erhoben. Er meint, Hannah Arendt gehe es um »politique pour la politique« (S. 353) — ganz gleichgültig, wie im einzelnen entschieden und gehandelt werde.

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  30. VA, S. 57.

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  31. In: G.W. Leibniz: Philosophische Schriften. 5 Bde. Fr.-dt. Hg. u. übers. v. H. Herring. Darmstatdt 1985. Bd. 1.

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  32. Ebd., S. 33. Vgl. auch die entsprechende Bestimmung in der Theodizee § 282: »l’événement dont l’opposé est possible, est contingent; comme celui dont l’opposé est impossible, est nécessaire« (a.a.O., Bd. II/2, S. 62). David Hume verwendet die gleiche Unterscheidung im Rahmen seiner Untersuchung der Kausal- und Induktionsschlüsse, wenn er matters of fact gegen relations of ideas setzt: »The contrary of every matter of fact is still possible; because it can never imply a contradicition […]« (Enquiry Concerning Human Understanding. In: Enquiries Concerning Human Understanding and Concerning the Principles of Morals, ed. by L.A. Selby-Bigge, third edition with text revised and notes by P.H. Nidditch. Oxford 1982. S. 25).

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  33. Zum prä-politischen Charakter der Tatsachenwahrheit vgl. D.R. Villa. A.a.O. S. 96; D.J. Opstaele. A.a.O. S. 165 ff.

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  34. Vgl. H. Arendt: Truth and Politics. In: BPF. S. 227–264. Hier: S. 237.

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  35. Zum Verhältnis von Meinung und Interesse vgl. ÜR, S. 292.

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Schmitz, HG. (2001). Die perspektivische Konstitution des Politischen. In: Ballestrem, K.G., Gerhardt, V., Ottmann, H., Thompson, M.P. (eds) Politisches Denken Jahrbuch 2001. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02726-9_2

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