Zusammenfassung
Der russische Literaturwissenschaftler Michail Bachtin zitiert diese Verse aus dem »Atta Troll«, weil sie seiner Meinung nach für Heines Wahrnehmung der Ambivalenz charakteristisch sind.2 Damit ist ein zentraler Terminus Bachtinscher Theorie und zugleich eine signifikante Verbindung zwischen ihr und Heines Werk angesprochen. Auch bei Heine spielen Ambivalenzen unterschiedlicher Art eine entscheidende Rolle. Viele Eigenheiten, die Heines Stil bestimmen — wie die genannten antithetischen Formulierungen —, korrespondieren mit den wichtigsten theoretischen Ansätzen Michail Bachtins: Dialogizität und Karnevalisierung. Das Pathos des Wechsels, das sich im Eingangszitat als Todesjubel und kluger Wahn manifestiert, ist nur ein besonders markantes Beispiel für das Karnevaleske, das Groteske, die Ambivalenz bei Heine, wie Bachtin es angedeutet hat.
Wahnsinn, der sich klug gebärdet!
Weisheit, welche überschnappt!
Sterbeseufzer, welche plötzlich
Sich verwandeln in Gelächter! (B IV, 570)1
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Anmerkungen
Zitiert wird nach: Heinrich Heine. Sämtliche Schriften. Hrsg. von Klaus Briegleb. München 1968–1976. 6 Bände.
Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Frankfurt/M. 1995, S.537.
Michail M. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes. Frankfurt/ M. 1979, S. 157.
Michail Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs. München 1971, S. 215ff.
Michail M. Bachtin: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Frankfurt/M. 1989, S. 117f.
Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt/M. 1990, S. 211.
Andreas Schirmeisen: Heines »Aus den Memoiren des Herren von Schnabelewopski«. Eine parodistische Negation des Bildungsromans. — In: HJb 1996. S. 66–80. Schirmeisen setzt Schnabelewopski in Beziehung zu Goethes Wilhelm Meister; er bezeichnet ihn als »Anti-Wilhelm« (S. 76) — in jedem Fall passiv, entwicklungslos, auf sinnliche Genüsse beschränkt. Einer, der durch die Konfrontation mit der »oberflächlichen Banalität des Tatsächlich-Alltäglichen« die »auf ein Ziel zusteuernde Entwicklung eines zu bildenden Individuums« negiert.
Manfred Windfuhr: Heines Fragment eines Schelmenromans. »Aus den Memoiren des Herren von Schnabelewopski«. — In: HJb 1967. S. 21–39. Windfuhr geht als erster ausführlich auf die im »Schnabelewopski« vorhandenen Elemente des Schelmenromans ein, so z.B. der Ich-Erzähler, der im Stil einer Autobiographie berichtet; die episodische Struktur; das Außenseitermilieu; das »Interesse an der Vital- und Instinktsphäre des Menschen« u.a. Gleichzeitig weist er auf die weit über das Pikareske hinausgehenden Tendenzen der Erzählung hin, spricht von einer eigenen produktiven Weiterbildung des tradierten Schemas durch Heine (S. 37).
Dieter Arendt: Heinrich Heine: Aus den Memoiren des Herren von Schnabelewopski oder ein Pikaro am Jungfernstieg. — In: HJb 1997, S. 40–69. Wie der Titel schon ankündigt, geht es Arendt um die pikarische Perspektive des Erzählers, insbesondere in der Hamburgepisode. In vielerlei Hinsicht reizt das Insistieren auf dem Pikaro-Blick zum Widerspruch. Drei Beispiele: »Für den Pikaro gibt es keinen Unterschied zwischen Eros und Sexus und alle Mädchen und Frauen sind gleicherweise weiblich […]«(S.45). Arendt meint dabei Schnabelewopskis Haltung sowohl gegenüber den Dienstmädchen als auch den Kaufmannstöchtern, die über den Jungfernsteg flanieren. Die diesem Standpunkt keineswegs entsprechende Konzeption der Frauenfigur Jadviga, deren Bedeutung offensichtlich ist, da sie in der Erzählung dreimal erscheint — und das an für die Handlung wichtigen Stellen (Beginn der Reise Schnabelewopskis; am Wendepunkt zum tragischen Ende hin), wird völlig vernachlässigt. Die mehrmalige Charakterisierung Schnabelewopskis als pikarischer Voyeur aus dem Hinterhalt (S.44, 51) scheint überzogen, da hier ein Platz gemeint ist, an dem sich offensichtlich alles Volk trifft, zum »schönsten Spaziergang«, zum Sehen und Gesehen werden. Der »pikarische Nihilismus«, von dem Arendt spricht, ist nicht wirklich als Geisteshaltung Schnabelewopskis auszumachen, dazu ist seine Beobachtungshaltung zu uneindeutig dargestellt.
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Rudtke, T. (2000). Die Sehnsucht nach »ewiger Kirmes« und »Mockturteltauben« Heines »Schnabelewopski« — Eine menippeische Satire. In: Kruse, J.A. (eds) Heine-Jahrbuch 2000. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02722-1_1
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