Zusammenfassung
Wenn als Bedingung der Möglichkeit der Interpretation eines literarischen Textes ein Bedeutungsüberschuß des signifié gegenüber dem signifiant vorausgesetzt werden muß, ein »Rest des Denkens, den die Sprache im Dunkeln gelassen hat«,1 manövriert sich folgerichtig jede Interpretation in eine paradoxe Situation; denn sie behauptet im Bewußtsein der semantischen Polyvalenz literarischer Gebilde zugleich die eigene Geltung und die prinzipielle Unlösbarkeit des Rätsels, das die Sprache darstellt. Kleist scheint in diesem Kontext eine paradigmatische Stellung einzunehmen, denn einem Wort von Caroline Neubaur folgend fliegt dem Interpreten jedesmal, wenn er sich über die Vulkane der Kleistschen Texte beugt, etwas entgegen, das er nicht erwartet. Diese Situation läßt sich aushalten, solange das hermeneutische Axiom aller Interpretation, daß es möglich sei, die Rede eines anderen zu verstehen, nicht in Frage gestellt, sondern, etwa im Sinne des Foucaultschen Diskursbegriffs, differenziert ausgefaltet wird: »Der Sinn einer Aussage wäre nicht definiert durch den Schatz der in ihr enthaltenen Intentionen, durch die sie zugleich enthüllt und zurückgehalten wird, sondern durch die Differenz, die sie an andere, wirkliche und mögliche, gleichzeitige oder in der Zeit entgegengesetzte Aussagen anfügt. So käme die systematische Gestalt der Diskurse zum Vorschein.«2 An die Stelle der referentiellen Textbedeutung träte ein interdiskursives Netzwerk, das Schreiber und Archivare, Adressaten und Interpreten verschiedener Dikursformationen verschaltete und eben den einen Fehler nicht beginge, den im Gewande naiver Begrifflichkeit so unschuldig daherkommenden Machtstrukturen zu erliegen.3
Denn das Symptom ist eine Metapher.
Jacques Lacan
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Notizen
Michel Foucault, Die Geburt der Klinik, München 1973, S. 14.
Vgl. Friedrich A Kittler, Ein Erdbeben in Chili und Preußen. In: Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists ›Das Erdbeben in Chilis hg. von David E. Wellbery, München 1987, S. 24–39, hier S. 24.
Bianca Theisen, Bogenschluß. Kleists Formalisierung des Lesens, Freiburg 1996, S. 11.
Vgl. Jürgen Fohrmann, Schiffbruch mit Strandrecht. Der ästhetische Imperativ in der ›Kunstperiode‹, München 1998, S. 24.
Zur Theorie der Metapher siehe: Theorie der Metapher, hg. von Anselm Haverkamp, Darmstadt 1983.
Laszlö F. Földenyi, Heinrich von Kleist. Im Netz der Wörter, München 1999, S. 270.
Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt a.M. 1999, S. 11–13.
Helmut Schneider, Dekonstruktion des hermeneutischen Körpers. Kleists Aufsatz ›Über das Marionettentheater und der Diskurs der klassischen Ästhetik. In: KJb 1998, S. 153–176, hier S. 154.
Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1990, S. 383.
Harro Müller, Kleist, Paul de Man und Deconstrution. Argumentative Nach-Stellung. In: Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, hg. von Jürgen Fohrmann und Harro Müller, Frankfurt a.M. 1988, S. 81–95, hier S. 83.
Arthur C. Danto, Metapher und Erkenntnis. In: Ders., Kunst nach dem Ende der Kunst, München 1996, S. 93–111, hier S. 99.
De Man, Paul, Tropen (Rilke). In: Ders., Allegorien des Lesens, Frankfurt a.M. 1988, S. 52–91, hier S. 80.
Wolfram Hogrebe, Archäologische Bedeutungspostulate, Freiburg; München 1977, S. 243.
Eine interessante, psycholinguistisch ausgerichtete Deutung der performativen Kraft der Sprechakte in Kleists ›Penthesilea‹ liefert: Birgit Hansen, Gewaltige Performanz. Tödliche Sprechakte in Kleists ›Penthesilea‹. In: KJb 1998, S. 109–127.
Michael Neumann, Genius malignus Jupiter oder Alkmenes Descartes-Krise. In KJb 1994, S. 141–156, hier S. 144.
Karlheinz Stierle, ›Amphitryons Die Komödie des Absoluten. In: Kleists Dramen, hg. von Walter Hinderer, Stuttgart 1997, S. 33–75, hier S. 57.
Gerhard Fricke, Gefühl und Schicksal bei Heinrich v. Kleist, Darmstadt 1963, S. 74.
Vgl. Bernd Fischer, Ironische Metaphysik. Die Erzählungen Heinrich von Kleists, München 1988, S. 69.
Vgl. Dirk Grathoff, ›Michael Kohlhaas‹. In: Kleists Erzählungen, hg. von Walter Hinderer, Stuttgart 1998, S. 43–67, hier S. 51.
Franz Kafka, Ein Landarzt. In: Ders., Sämtliche Erzählungen, hg. von Paul Raabe, Frankfurt a.M. 1991, S. 124–129, hier S. 124.
Jacques Lacan, Schriften II, hg. von N. Haas und H.-J. Metzger, 3. Auflage, Weinheim und Basel 1991, S. 213 ff.
Mikkel Borch-Jacobsen, Lacan. Der absolute Herr und Meister, München 1999, S. 205.
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Mein, G. (2000). Identität und Äquilibration. In: Blamberger, G. (eds) Kleist-Jahrbuch 2000. Kleist-Jahrbuch. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02719-1_10
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