Zusammenfassung
Der Name Sades, den Bellmer seiner Serie von zehn Kupferstichen gab, die er später in farbigen Überdrucken wiederholte, bestimmt mit dem Batailles, dessen Madame Edwarda er illustrierte, den Horizont libertiner Erotik, unter dem sein graphisches Oeuvre insgesamt zu sehen ist.2 Es eignet sich nicht zum bildlichen Kommentar ihrer philosophischen Romane, vielmehr haben diese gewisse Intentionen mit ihm gemein, wenn sie auch hier und dort verschiedene Gestalt angenommen haben: im Hinblick auf Sade nicht so sehr die sexuelle Libertinage in ihrer schrankenlosen Progression als die kalte Rationalität, die sie konstruierte. Fremd mögen die erotischen Phantasiebilder dem Blick erscheinen, der von alltäglicher Erfahrung abgestumpft auf sie Mt und für den sie in der Tat noch jene „imbegriffliche Sinnlichkeit” besitzen, die eher eine noch unbegriffene zu nennen wäre. Gorsen hat ihre Unbegrifflichkeit für die Theorie der erotischen Mimesis postuliert, während sie doch als bewußt gemachte mehr als bloß ganzheitlicher Ausdrucksreflex des Körpers sind, dessen intellektuelle und mimetische Komponenten ungeteilt wären.3 Bellmer, weit entfernt von der in surrealistischen Manifesten geforderten Traum- und Schlafmalerei, hat ohne Zweifel die noch ungesehenen Bilder körperlicher Erotik intellektuell konzipiert, worüber auch die sie begleitenden theoretischen Reflexionen hinreichende Auskunft geben. Zuverlässiger als im Stile mystischer Transgressionsvisionen des Leibes, wie sie Bataille sich vorstellte, sind sie in den analytischen Kategorien der Freudschen Traumtheorie zu begreifen, wenn die Kritik nicht die lebensphilosophischen Ausführungen, mit denen Bellmer sein Oeuvre überdachte, mit dessen technischer Genesis verwechseln will, auf der er gleichwohl besteht.
Die Phantasie spielt nicht nur eine wesentliche Rolle in den perversen Manifestationen der Sexualität, als künstlerische Vorstellungskraft verknüpft sie die Perversionen mit den Urbildern völliger Freiheit und Erfüllung.
Herbert Marcuse
Der Text erschien zuerst unter dem Titel Ein materialistischer Allegoriker der Lust in: Bellmer-Graphik. Katalog des Studio 69. Köln 1970. S. 11 – 27.
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Literatur
Peter Gorsen: Das Prinzip Obszön. Kunst, Pornographie und Gesellschaft. Reinbek b. Hamburg 1969.
Christian d’Orgeix: Hans Bellmer. Paris 1950.
Peter Gorsen: Das Bild Pygmalions. Kunstsoziologische Essays. Reinbek b. Hamburg 1969. S. 69ff.
Sigmund Freud: Die Traumdeutung. Frankfurt a.M. 1961. S. 174.
Theodor W. Adorno: Rückblickend auf den Surrealismus. In: ders.: Noten zur Literatur I. Frankfurt a.M. 1958. S. S. 153 – 160. Hier: S. 154.
André Breton: Erstes Manifest des Surrealismus, 1924. In: ders.: Die Manifeste des Surrealismus. Reinbek b. Hamburg 1993. S. 9 – 43. Hier: S. 23 (Anm.).
Hans Bellmen: Die Puppe. Berlin 1962. S. 152f.
Henri Bergson: Materie und Gedächtnis, und andere Schriften. Frankfurt a.M. 1964. S. 77f.
Alain Jouffroy: Hans Bellmer. In: Bellmer. Publikation der William and Noma Copley Foundation. London o.J. (1959).
Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft. Hg. von Karl Vorländer. Hamburg 91963(11929). S.97f.
Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt a.M. 1962. S. 142.
Donatien Alphose François Marquis de Sade: Die Neue Justine. In: ders.: Ausgewählte Werke. Hg. von Marion Luckow. Bd. 3. Hamburg 1965. S. 271f.
Patrick Waldberg: Hans Bellmer ou l’écorcheur écorché. In: Katalog der Galerie Daniel Cordier. Paris 1963.
CA. Jelenski: Hans Bellmer ou la douleur déplacée. In: Preuves 163 (1964) 64 – 68. Wieder abgedruckt in: Les dessins de Hans Bellmer. Préf. de Constantin Jelenski. Paris 1966.
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Glaser, H.A. (2000). Über Bellmer — und Sade. In: Kleine, S. (eds) Sade und…. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02700-9_2
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