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Baudelaire: Une charogne. Von der Häßlichkeit der Liebe und ihrer Vergeistigung als Privileg männlicher Kreativität

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Zusammenfassung

In der Geschichte der französischen Lyrik präsentieren Les Fleurs du mal Baudelaires Abrechnung mit dem klassischen wie klassizistischen Glauben an die Einheit vom Guten und Schönen, vom Ästhetischen und Ethischen. Angesichts einer Welt, in der Torheit und Laster regieren und die Menschheit scheinheilig und genüßlich ihre aus den Sünden erwachsenen Gewissensbisse kultiviert — wie die Eingangsverse es darstellen — vollzieht Baudelaire in vielen Gedichten die „Abkehr von Schönheit und Ideal“ und gibt in der oxymoronhaften Verbindung von Blume und Bösem eine für das Thema unseres Kolloquiums aufschlußreiche Nuance. Seine Charogne ist ein Liebesgedicht ganz besonderer Art. Es ist keine Huldigung an die Schönheit, Anmut oder den Geist der Geliebten, obwohl der Dichter sie im vorletzten Vers „la reine des grâces“ nennt.2 Sie ist nicht, wie im Minnesang, fernes, unerreichbares Ideal. Ganz im Gegenteil, sie hat ihn schon erhört und es hat den Anschein — das ist meine These -, als ob das lange Zusammenleben der beiden im Liebenden eine unterschwellige Boshaftig-keit oder gar Haß gegenüber der Dame seines Herzens entwickeln ließ, aus dem zugleich seine Verachtung gegenüber dem weiblichen Geschlecht überhaupt abzulesen ist. Das bedeutet einen Bruch mit der Tradition. Und doch läßt der Schluß, in dem von der Göttlichkeit der Liebe die Rede ist, keinen Zweifel daran, daß es sich tatsächlich um ein Liebesgedicht handelt.

Vous avez l’âme belle, mais en somme, c’est une âme féminine.

Baudelaire an Madame Sabatier am 31. August 18571

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Literatur

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  2. M. Richter, auf dessen eingehende und liebevolle Interpretation nachdrücklich verwiesen sei, diskutiert die Ambiguität der Anrede und postuliert als Gesprächspartner eine „anima-donna“ (La ‘moralité’ di Baudelaire. Lettura de ‘Les Fleurs du mal’ Padua 1991, Bd. 2, S. 67). Richter betont zurecht die hier nicht berücksichtigte Verneinung der christlichen Vorstellung vom Leben im Jenseits. doch läßt der Schluß, in dem von der Göttlichkeit der Liebe die Rede ist, keinen Zweifel daran, daß es sich tatsächlich um ein Liebesgedicht handelt. Baudelaire wollte provozieren. Wie sehr ihm das gelang, zeigen die Reaktionen der Zeitgenossen, die sich in widersprechenden Deutungen niederschlagen; sie mögen am Anfang dieser Lektüre der Charogne stehen.

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Drost, W. (2000). Baudelaire: Une charogne. Von der Häßlichkeit der Liebe und ihrer Vergeistigung als Privileg männlicher Kreativität. In: Fischer, C., Veit, C. (eds) Abkehr von Schönheit und Ideal in der Liebeslyrik. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02695-8_20

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