Zusammenfassung
Das Verhältnis von Leben und Werk Heinrich von Kleists wird oftmals an den Wendepunkten der Biographie festgemacht, von der sogenannten Kant-Krise über die Kriegsgefangenschaft bis zur Krisensituation um die ›Berliner Abendblätter‹ 1810/11. Von einem »Weg zur Kunst« schrieb Klaus Müller-Salget einmal mit Blick auf die Reise im Frühjahr 1801 über Dresden nach Paris und Anfang 1802 weiter in die Schweiz, »an deren Ende der Dichter Heinrich von Kleist vor uns steht.«1 Kleist, als Dichter, steht vor uns als Produkt einer Krisen- und Reisebiographie. Diesem nomadischen Grundzug,2 der gleichermaßen lebensgeschichtlich wie poetologisch virulent zu sein scheint, widerspricht zumindest in Teilen das Stichwort der Inszenierung, das gleichermaßen die ja erst im Brief vom 22. März 1801 an Wilhelmine von Zenge eindrücklich werdende Kant-Krise betrifft3 wie — andere Beispiele wie das Geheimnisspiel um die Würzburger Reise ließen sich ergänzen — die »Ökonomie des Opfers«,4 die Kleists Tod vor allem in den eigenen Briefen in den Wochen vor der Selbsttötung umschreibt.
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Anmerkungen
Klaus Müller-Salget, Heinrich von Kleist, Stuttgart 2002, S. 58.
Vgl. etwa Ingo Breuer, Kleists Nomadentum. In: Günter Blamberger und Stefan Iglhaut (Hg.), Kleist. Krise und Experiment. Die Doppelausstellung im Kleist Jahr 2011, Berlin und Frankfurt (Oder), Bielefeld, Leipzig und Berlin 2011, S. 84–91.
»Kleist hat seine Kant-Erfahrung pathetisch als Krise inszeniert«, schreibt beispielsweise Bernhard Greiner, Eine Art Wahnsinn. Dichtung im Horizont Kants. Studien zu Goethe und Kleist, Berlin 1994, S. 11. Vgl. zur Deutung der Kant-Krise als Inszenierung (etwa um sich von der Braut zu lösen) auch Jochen Schmidt, Heinrich von Kleist. Die Dramen und Erzählungen in ihrer Epoche, Darmstadt 2003, S. 12–16;
Heiner Weidmann, Heinrich von Kleist. Glück und Aufbegehren. Eine Exposition des Redens, Bonn 1984, S. 118f. »Gleichwohl«, kann man Urs Strässles Einschränkungen in Bezug auf das bloß rhetorisch-inszenatorische Moment zustimmen, sind Kleists »Bekundungen schwerster Erschütterung, welche die Briefe aus der Zeit der Kant-Krise auszeichnen, [...] alles andere als bloß vorgeschobene Rhetorik im Dienste eines typisch Kleistschen Krisenmanagments« und »ist die Kant-Krise nicht das oder jedenfalls nicht nur das, wofür Kleist sie ausgibt: eine Erkenntniskrise. Vielmehr ist sie zugleich Ausdruck für die Verabschiedung eines Selbstund Weltverständnisses, das vom früh-idealistisch-aufklärerischen Teleologie- und Perfektibilitätsdenken beseelt war [...]. Kleists Lebensgeschichte beginnt recht eigentlich mit seiner emphatisch bekundeten Entscheidung, sein Leben künftig nach eigenen Vorstellungen gestalten zu wollen und den Dienst bei der Armee zu quittieren«
(Urs Strässle, Heinrich von Kleist. Die keilförrnige Vernunft, Würzburg 2002, S. 57f).
Vgl. Günter Blamberger, Ökonomie des Opfers. Kleists Todesbriefe. In: Detlef Schöttker (Hg.), Adressat: Nachwelt. Briefkultur und Ruhmbildung, München 2008, S. 145- 160.
Zur Inszenierung von Kleists Tod vgl. insbesondere die Podiumsdiskussion mit Günter Blamberger, Lászlo Földényi, Joachim Pfeiffer, Eva S. Poluda, Alexander Weigel und Gisela Stelly vom 12. Oktober 2000 in der Akademie der Künste in Berlin: ›Kleists letzte Inszenierung‹, in: KJb 2001, S. 245–265.
Vgl. insgesamt zu einer Verortung der Briefe zwischen einer eigenen Poetik des Briefs, Bezügen zu Kleists (übrigem) Werk und dem kulturellen Kontext Ingo Breuer, Katarzyna Jaital und Pawel Zarychta (Hg.), Gesprächsspiele & Ideenmagazine. Heinrich von Kleist und die Briefkultur um 1800, Köln, Weimar und Wien 2013.
Jens Bisky, Kleist. Eine Biographie, Berlin 2007, S. 7.
Joachim Maass, Kleist, die Fackel Preußens. Eine Lebensgeschichte, München, Wien und Basel 1957.
Dass »auf Kleists empfängliches Gemüt gerade sein, Wielands, Lob nicht nur eine förderne Wirkung ausüben mochte« (Gerhard Schulz, Kleist. Eine Biographie, München 2007, S. 248f.),
analysiert Gerhard Schulz, während Günter Blamberger feststellt: »Literatur politisch ist Kleists Anbindung an Wieland, der am Ende seines Lebens den Abstieg aus der ersten Liga der deutschen Dichtung in die zweite erleiden muss, fatal.« (Günter Blamberger, Heinrich von Kleist. Biographie, Frankfurt a.M. 2012, S. 207)
Max Kommerell, Die Sprache und das Unaussprechliche. Eine Betrachtung über Heinrich von Kleist (1937). In: Ders., Geist und Buchstabe der Dichtung. Goethe, Schiller, Kleist, Hölderlin, 6., ergänzte Auflage, Frankfurt a.M. 2009, S. 243–317, hier S. 259.
Gerhard Fricke, Gefühl und Schicksal bei Heinrich v. Kleist. Studien über den inneren Vorgang im Leben und Schaffen des Dichters (1929), Darmstadt 21963, S. 6.
Vgl. zur Todverfallenheit in einem weiteren Horizont, der den für Kleist so charakteristischen Zug zur ›Ewigkeit‹, ›Unsterblichkeit‹, zum ›Nachruhm‹ oder zur ›großen Tat‹ bei gleichzeitiger Insistenz auf der Innerweltlichkeit philosophiegeschichtlich kontextualisiert: »Die Sterblichen sind die Menschen, die ihre Todverfallenheit wissen allein im Hinblick auf die immerseienden, todentrückten Götter. [...] Die Sterblichen wissen ihr eigenes schwindendes Sein im Aufblick und Hinblick auf das immerwährende Sein der Götter [...]. Der Unterschied von Unsterblichen und Sterblichen wird vom Tode her charakterisiert. Aber dieser Unterschied ist nicht ein solcher wie der zwischen Leben und Tod selbst. Denn die Unsterblichen und Sterblichen leben und verhalten sich lebend zu sich in ihrem eigenen Selbstverständnis zum Sein der anderen.« (Martin Heidegger und Eugen Fink, Heraklit, Frankfurt a.M. 21996, S. 161)
Anke van Kempen, Die Rede vor Gericht. Prozess, Tribunal, Ermittlung: Forensische Rede und Sprachreflexion bei Heinrich von Kleist, Georg Büchner und Peter Weiss. Freiburg i.Br. 2005, S. 45.
Belege, dass Kleist und sein Vetter Carl Otto von Pannwitz — der sich 1795 tatsächlich das Leben nahm — schon früh den Tod als gemeinsamen planten, bleiben freilich unsicher. Vgl. zuletzt Martin Roussel, Kleists Überleben. In: KJb 2012, S. 290–306, hier S. 300, Anm. 34.
Vgl. zum hierin implizierten — im Sinne des Rituals: dysfunktionalen — Opfergedanken bei Kleist Anthony Stephens, Der Opfergedanke bei Heinrich von Kleist. In: Gerhard Neumann (Hg.), Heinrich von Kleist. Kriegsfall — Rechtsfall — Sündenfall, Freiburg i.Br. 1994, S. 193–248; Gerhard Neumann, Opfer-Aporien. Iphigenie und Penthesilea. In: KJb 2012, S. 258–269 sowie Daniel Weidner, Zerreißen, Verschlingen, Zerrinnen. Opfer, Abendmahl und Trauerspiel in Kleists ›Penthesilea‹. In: KJb 2012, S. 270–289. Weidner pointiert in Bezug auf das Schlussbild der ›Penthesilea‹ von der Eiche, die im Sturm gefällt wird: »Was Kleist in Szene setzt, ist von vornherein nicht die Überwindung des Todes durch das Leben, als welche Freud die Trauerarbeit charakterisiert — und Hegel die Tragödie —, sondem das Insistieren des Todes, weil gerade er es ist, der Zeichen macht.« (Ebd., S. 288)
Reformulieren kann man diese Struktur auch über den Vorbilder-Diskurs, wie ihn Thomas Macho analysiert hat. Vorbilder als diejenigen Bilder, die evozieren, das heißt ins Leben rufen — das Begehren, mit ihnen eins zu werden, auslösen — und die dennoch im Leben stets auf Distanz bleiben müssen: Die Identität mit dem Vorbild, das Einholen des vorgegebenen Bildes, beschreibt somit ein Zusammenfallen von Leben und Tod, von Begehren und Erfüllung. Vgl. Thomas Macho, Vorbilder, München 2011. Zur Inszenierung solcher Vor-Bilder, die durch das Begehren nach Identität und zugleich Unerreichbarkeit gekennzeichnet sind — so etwa Kleists wiederkehrendes Bild der Luftschiffer oder das vielfach von der Forschung aufgegriffene Gemälde ›La Madeleine soutenue par deux anges‹ aus dem Brieffragment an Marie von Kleist, Juni 1807 aus Châlons-sur-Marne vgl. Martin Roussel, »wie zart sie das zarte berühren«. Zur Kunst der Berührung bei Kleist. In: KJb 2008/09, S. 82–114, hier S. 87–94.
Vgl. die Erinnerung Peguilhens in Georg Minde-Pouet, Kleists letzte Stunden. Teil I: Das Akten-Material, Berlin 1925, S. 17.
Ludwig Wittgenstein, Werkausgabe, Bd. 8: Vermischte Bemerkungen, Frankfurt a.M. 1989, S. 471.
Vgl. Bianca Theisen, Kleists Paradoxien. In: Inka Kording und Anton Philipp Knittel (Hg.), Heinrich von Kleist. Neue Wege der Forschung, Darmstadt 2003, S. 111–129, hier S. 114.
Der Unterschied zwischen (als Angst erfahrener) ›Todesfurcht‹ und (mutiger oder hoffnungsvoller) ›Todverfallenheit‹ erinnert an die protestantische Auslegung der Todverfallenheit als Folge der Erbsünde, wie sie sich in Schleiermachers ›Der christliche Glaube‹ (1820) zur Selbstverständlichkeit verfestigt: »Seit dem 18. Jahrhundert [...] ist in der protestantischen Theologie die Meinung aufgekommen, der Tod des Menschen gehöre ebenso wie der aller anderen Lebewesen zur Endlichkeit seiner Natur. Nur dem Sünder werde dieser natürliche Tod zum Ausdruck des göttlichen Gerichts über die Sünde. Nicht mehr das objektive Faktum des Todes, sondern nur noch die subjektive Form seiner Erfahrung wurde nun als Folge der Sünde verstanden.« (Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 2, Göttingen 1991, S. 306)
Maurice Blanchot, Die Literatur und das Recht auf den Tod. In: Ders., Das Neutrale. Schriften und Fragmente zur Philosophie, hg. von Marcus Coelen, mit einem Vorwort von Jean-Luc Nancy, Zürich 2010, S. 47–92, hier S. 74.
Eine scharfe Gegenthese hat zuletzt Ernst Osterkamp formuliert, indem er eine Arbeit über den späten Goethe (nach Schillers Tod) unter das Zeichen der Einsamkeit gestellt hat. Vgl. Ernst Osterkamp, Einsamkeit. Goethe, die Kunst und die Wissenschaft im Jahrzehnt nach Schillers Tod. Eine werkbiographische Skizze. In: Lothar Ehrlich und Georg Schmidt (Hg.), Ereignis Weimar-Jena. Gesellschaft und Kultur um 1800 im internationalen Kontext, Köln, Weimar und Wien 2008, S. 101–115.
Vgl. Sibylle Lewitscharoff, Rede zur Verleihung des Kleist-Preises 2011. In: KJb 2012, S. 14–19, etwa S. 16.
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Roussel, M. (2014). Todverfallenheit. In: Blamberger, G., Breuer, I., de Bruyn, W., Müller-Salget, K. (eds) Kleist-Jahrbuch 2014. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-01374-3_9
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