Zusammenfassung
Die verstörende Ambiguität vieler Figuren Kleists zwischen Ohnmacht und Gewalttätigkeit hat bei seinen Interpreten und Interpretinnen von jeher die Frage nach dessen Menschenbild hervorgerufen.2 Wie Alexander Košenina feststellt, hat allerdings bisher die »Erforschung der literarischen Anthropologie […] Kleist merkwürdig unterschätzt.«3 Insofern ist die Dissertation ›Der souveräne Mensch. Die Anthropologie Heinrich von Kleists‹ von Tim Müller vielversprechend. De Autor setzt sich darin zum Ziel, »Kleists Werk als Eintrag in die abendländische Anstrengung der Verortung des Menschen« (12) zu lesen, das heßt: Kleist in die Geschichte der europäischen Anthropologie einzuordnen. Dabei folgt der Autor der übergeordneten These, dass Kleist »Schöpfer einer alternativen Anthropologie, eines anderen Menschen« (18) sei. Ausgehend von Kants Konzeption des autonomen Menschen habe Kleist die »Forderung individueller Handlungssouveränität« (21) zurückgewiesen und damit eine grundlegende anthropologische Alternative angeboten, wie sie sich in der Ethik- und Souveränitätskritik Judith Butlers wiederfinde. Daher solle »Kleists Anthropologie über die Souveränitätsidee« (15) erschlossen werden. Der systematische Zusammenhang von Souveränitätstheorien und anthropologischen Konzeptionen ist Leitprämisse der Untersuchung.
Über: Tim Müller: Der souveräne Mensch. Die Anthropologie Heinrich von Kleists. Göttingen: V&R unipress 2011, 240 S.
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Anmerkungen
Albrecht von Haller, Gedanken über Vernunfft/Aberglauben und Unglauben. An Hrn. Professor Staehelin. In: Ders.: Versuch Schweizerischer Gedichte, Bern 1731, S. 46–62, hier S. 47. Müller schreibt dieses Zitat allerdings fälschlicherweise Schiller zu, von dem es in seiner Dissertation ›Über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen‹ angeführt wird.
Es ist in diesem Kontext allerdings überraschend, dass Johann Gottlieb Fichtes IchPhilosophie in Müllers Arbeit nicht zur Sprache kommt, da Kleist aller Wahrscheinlichkeit nach Kant vor allem über die Fichte-Lektüre rezipiert hat. Vgl. Michael Mandelartz, Von der Tugendlehre zur Lasterschule. In: KJb 2006, S. 120–136, hier S. 127.
Vgl. Hans-Jürgen Schings, Über einige Grausamkeiten bei Heinrich von Kleist. In: KJb 2008/2009, S. 115—137,hier S. 128.
Er bezieht sich dabei auf Judith Butler, Kritik der ethischen Gewalt. Aus dem Englischen von Reiner Ansén, Frankfurt a.M. 2003.
Vgl. zum Beispiel Wolfgang Riedel, Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft. In: IASL 6 (1994), Sonderheft: Forschungsreferate 3. Folge, S. 94–157;
Maximilian Bergengruen, Roland Borgards und Johannes Friedrich Lehmann, Einleitung. In: Dies. (Hg.), Die Grenzen des Menschen. Anthropologie und Ästhetik um 1800, Würzburg 2001, S. 7–14;
Ingo Stöckmann, Traumleiber. Zur Evolution des Menschenwissens im 17. und 18. Jahrhundert. Mit einer Vorbemerkung zur literarischen Anthropologie. In: IASL 26 (2001), H. 2, S. 1–55.
Zum Beispiel Wolfgang Riedel, Die Anthropologic des jungen Schiller. Zur ldeengeschichte der medizinischen Schriften und der ›Philosophischen Briefe‹, Würzburg 1985;
Hans-Peter Nowitzki, Der wohltemperierte Mensch. Auflklärungsanthropologien im Widerstreit, Berlin 2003;
Tanja van Hoorn, Dem Leibe abgelesen. Georg Forster im Kontext der physischen Anthropologie des 18. Jahrhunderts, Tübingen 2004.
Zur Einordnung von Kleists Anthropologie in den Kontext des naturwissenschaftlichmedizinischen Wissens seiner Zeit vgl. Gudrun Debriacher, »Die Rede der Seele über den Körper«. Das »commercium corporis et animae« bei Heinrich von Kleist, Wien 2007.
Vgl. Nicolas Pethes (Hg.), Ausnahmezustand der Literatur. Neue Lektüren zu Heinrich von Kleist, Göttingen 2011.
Vgl. Theodore Ziolkowski, Kleists Werk im Lichte der zeitgenössischen Rechtskontroverse. In: KJb 1987, S. 28–51;
Wolfgang Wittkowski, Ironische Rechtsprechung in ›Prinz Friedrich von Homburg‹ und ›Michael Kohlhaas‹. In: Peter Ensberg (Hg), Politik — Öffentlichkeit — Moral. Kleist und die Folgen, Stuttgart 2002, S. 59–84;
Remigius Bunia, Vorsätzliche Schuldlosigkeit — begnadete Entscheidungen. Rechtsdogmatik und juristische Willenszurechnung in ›Der Prinz von Homburg‹ und ›Die Marquise von O….‹. In: KJb 2004, S. 42–61.
Vgl. Uwe Henrich Peters, Somnambulismus und andere Nachtseiten der menschlichen Natur. In: KJb 1990, S. 135–152;
Alexander Košenina, Vorbewußtsein und Traum in Kleists Anthropologie. In: Peter-André Alt u.a. (Hg), Traum-Diskurse der Romantik, Berlin 2005, S. 232–255;
Uffe Hansen, Prinz Friedrich von Homburg und die Anthropologie des animalischen Magnetismus. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 50 (2006), S. 47–79.
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Robanus, A. (2014). Die Ermutigung, »falsch lesen, falsch leben zu dürfen«. In: Blamberger, G., Breuer, I., de Bruyn, W., Müller-Salget, K. (eds) Kleist-Jahrbuch 2014. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-01374-3_17
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