Zusammenfassung
Für manche Zwecke ist es hilfreich, die Auslegung der Werke eines Autors von der Rekonstruktion seiner Lebensumstände zu trennen. Eine solche Abgrenzung von Leben und Werk ist jedoch nur bis zu einem gewissen Punkt sinnvoll. Sie wird wahrscheinlich zu weit getrieben, wenn wir uns vornehmen, den Autor vorübergehend beiseite zu lassen, um das Werk zuerst aus seinen Strukturen heraus zu verstehen. Denn es ist unklar, wie wir die Strukturen eines Werks analysieren wollen, ohne den Autor zu berücksichtigen, der sie mit sprachlichen Mitteln aufbaut. Einige einflussreiche Erzählforscher lassen sich indes von der Vorstellung leiten, man könne die Eigenschaften einer fiktionalen Erzählung beschreiben, ohne den Autor einzubeziehen. Sie finden es angemessen, den Autor auszuklammern und ihn grundsätzlich vom werkimmanenten Erzähler zu trennen. Diese Denkweise bestimmt seit längerer Zeit die literaturwissenschaftliche Auslegungspraxis. Auch das Verständnis von Kleists Erzählungen hat sich dadurch erheblich verändert: Viele Interpretationen wären ohne die Voreinstellung, dass die Erzählungen einen fiktiven Erzähler haben, nicht entstanden. Im Folgenden wird die These entwickelt, dass die ungeprüfte Annahme einer gesonderten Erzählstimme zu Missverständnissen führen kann. Die betreffenden Interpretationen und das Bild, das sie von Kleist entwerfen, müssen neu durchdacht werden.
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Anmerkungen
Vgl. René Nünlist, The Ancient Critic at Work. Terms and Concepts of Literary Criticism in Greek Scholia, Cambridge 2009, S. 132f. Irene J.F. de Jong hat ihre Meinung, Aristoteles habe in der ›Poetik‹ (1460a5—11) den homerischen Erzähler vom Dichter getrennt, korrigiert.
Vgl. Irene J.E de Jong, Aristotle on the Homeric Narrator. In: The Classical Quarterly 55 (2005), S. 616–621.
Franz Stanzel, Theorie der Erzählung, Göttingen 82008, S. 27.
Abweichende Meinungen vertreten Dietrich Weber, Erzählliteratur. Schriftwerk, Kunstwerk, Erzählwerk, Göttingen 1998;
Fotis Jannidis, Zwischen Autor und Erzähler. In: Heinrich Detering (Hg.), Autorschaft. Positionen und Revisionen, Stuttgart 2002, S. 540–556;
Tilmann Köppe und Jan Stühring, Against Pan-Narrator Theories. In: Journal of Literary Semantics 40 (2011), S. 59–80;
Tilmann Köppe und Tom Kindt, Erzähltheorie. Eine Einführung, Stuttgart 2014, S. 84–97. Weitere wichtige Hinweise gibt Sylvie Patron in ihrem Diskussionsbeitrag zum Artikel ›Narrator‹ im ›living handbook of narratology‹.
Vgl. Sylvie Patron, Narrator [Art.]. In: ›living handbook of narratology, 2. März 2013, www.lhn.uni-hamburg.de/discussion/discussion-narrator (24.6.2014).
Jochen Vogt, Wie analysiere ich eine Erzählung?, Paderborn 2011, S. 34.
Matias Martinez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, 9., erweiterte und aktualisierte Auflage, München 2012, S. 20.
Vgl. Michael Scheffel, Formen selbstreflexiven Erzählens. Eine Typologie und sechs exemplarische Analysen, Tübingen 1997, S. 34;
ders., Käte Hamburgers ›Logik der Dichtung‹ — ein Grundbuch der Fiktionalitäts- und Erzähltheorie? Versuch einer Re-Lektüre. In: Johanna Bossinade und Angelika Schaser (Hg.), Käte Hamburger. Zur Aktualität einer Klassikerin, Göttingen 2003, S. 140–155, hier S. 153–155;
ders., Fiktion(alität). In: Horst Brunner und Rainer Moritz (Hg.), Literaturwissenschaftliches Lexikon, 2., überarbeitete und erweiterte Auflage, Berlin 2006, S. 120–123, hier S. 121;
ders., Käte Hamburger. In: Matias Marttinez und Michael Scheffel (Hg.), Klassiker der Literaturtheorie. Von Sigmund Freud bis Judith Butler, München 2010, S. 148–164, hier S. 162–164.
Vgl. Wolfgang Kayser, Kleist als Erzähler. In: Ders., Die Vortragsreise. Studien zur Literatur, Bern 1958, S. 169–183.
Hans-Jürgen Schings, Der Höllenpunkt. Zum Erzählen Kleists. In: Marie Haller-Nevermann und Dieter Rehwinkel (Hg.), Kleist — ein moderner Aufklärer?, Göttingen 2005, S. 41–59.
Heinrich von Kleists Werke, hg. von Erich Schmidt im Verein mit Georg Minde-Pouet und Reinhold Steig, 5 Bde., Leipzig 1904–06, Bd. 3, S. 132.
Vgl. John Ellis, Heinrich von Kleist. Studies in the Character and Meaning of his Writings, Chapel Hill 1979, S. 1–20;
Jürgen Schröder, Kleists Novelle ›Der Findling‹. Ein Plädoyer für Nicolo. In: KJb 1985, S. 109–127;
Anthony Stephens, Heinrich von Kleist. The Dramas and Stories, Oxford 1994, S. 224–235;
Günter Blamberger, Die Novelle als Antibildungsgeschichte. Anmerkungen zu Kleists ›Der Findling‹. In: Peter-André Alt u.a. (Hg.), Prägnanter Moment. Studien zur deutschen Literatur der Aufklärung und Klassik. Festschrift für Hans-Jürgen Schings, Würzburg 2002, S. 479–494; Klaus Müller-Salget, Struktur und Gehalt. In: DKV III, S. 865–871.
Wolfgang Kayser, Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft, Bern 1961, S. 17.
Käte Friedemann, Die Rolle des Erzählers in der Epik (1910), Darmstadt 1965, S. 26.
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Uri Margolin, Narrator [Art.]. In: Peter Hühn u.a. (Hg.), Handbook of Narratology, Berlin 2009, S. 351–369, hier S. 351.
Silke Lahn und Jan Christoph Meister, Einführung in die Erzähltextanalyse, Stuttgart 2008, S. 42.
Moritz Baßler, Autorintention und Gattung [Art.]. In: Rüdiger Zymner (Hg.), Handbuch Gattungstheorie, Stuttgart 2010, S. 47f., hier S. 47.
Ralf Klausnitzer, Literaturwissenschaft, 2., aktualisierte und erweiterte Auflage, Berlin 2012, S. 162.
Vgl. Tom Kindt und Hans-Harald Müller, The Implied Author. Concept and Controversy, Berlin und New York 2006.
Frank Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft, Berlin 2001, S. 121.
Frank Zipfel, Fiktion [Art.]. In: Gerhard Lauer und Christine Ruhrberg (Hg.), Lexikon Literaturwissenschaft. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2011, S. 93–96, hier S. 94. Vgl. ders., Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität (wie Anm. 30), S. 121.
Dorrit Cohn, Historisches und literarisches Erzählen. In: Sprachkunst 26 (1995), S. 105–112, hier S. 112. Vgl. dies., Signposts of Fictionality. A Narratological Perspective. In: Poetics Today 11.4 (1990), S. 775–804, hier S. 798–800; dies., Discordant Narration. In: Style 34.2 (2000), S. 307–316.
Gernot Müller, Prolegomena zur Konzeptionalisierung unzuverlässigen Erzählens im Werk Heinrich von Kleists. In: Studia Neophilologica 77.1 (2005), S. 41–70, hier S. 57.
Vgl. Wolfgang Wittkowski, Skepsis, Noblesse, Ironie. Formen des Als-ob in Kleists ›Erdbeben‹. In: Euphorion 63 (1969), S. 247–283, hier S. 257;
Hans Zeller, Keists Novellen vor dem Hintergrund der Erzählnormen. Nichterfüllte Voraussetzungen ihrer Interpretation. In: KJb 1994, S. 83–304; Stephens, Heinrich von Kleist (wie Anm. 12), S. 252;
Walter Hinderer, Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik. In: Ders. (Hg.), Kleists Erzählungen. Interpretationen, Stuttgart 1998, S. 181–214, hier S. 203;
Jochen Schmidt, Heinrich von Kleist. Die Dramen und Erzählungen in ihrer Epoche, Darmstadt 2003, S. 183;
Günter Blamberger, Heinrich von Kleist. Biographie, Frankfurt a.M. 2011, S. 455;
Thomas Nehrlich, Nachwort. In: Heinrich von Kleist, Erzählungen. Faksimile der Erstausgabe 1810/ 1811, hg., eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Thomas Nehrlich, Hildesheim 2011, Bd. 2, S. 245–321, hier S. 258.
Anthony Stephens, Stimmengewebe. Antithetik und Verschiebung. In: Paul Michael Lützeler und David Pan (Hg.), Kleists Erzählungen und Dramen. Neue Studien, Würzburg 2001, S. 77–92, hier S. 90.
Gerhard Schulz, Kleist. Eine Biographie, München 2007, S. 489.
Peter Staengle, Heinrich von Kleist. Sein Leben, Heilbronn 42011, S. 156.
Andrea Bard, Nachwort. In: Heinrich von Kleist, Erzählungen. Studienausgabe, Stuttgart 2013, S. 363–378, hier S. 378.
Vgl. Bede Rundle, Meaning and Understanding. In: Hans-Johann Glock (Hg.), Wittgenstein. A Critical Reader, Oxford 2001, S. 94–119;
Peter Hacker, Wittgenstein. Understanding and Meaning. Part I: Essays, Oxford 2005, S. 1–28, 129—158.
Vgl. Irvin Ehrenpreis, Personae. In: Carroll Camden (Hg.), Restoration and Eighteenth-Century Literature. Essays in Honor of A.D. McKillop, Chicago 1963, S. 25–37.
Peter Horn, Heinrich von Kleists Erzählungen. Eine Einführung, Königsstein/Ts. 1978, S. 181.
Thomas Mann, Heinrich von Keist und seine Erzählungen. In: Ders., Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, hg. von Hans Bürgin und Peter de Mendelssohn, Bd. IX: Reden und Aufsätze, Frankfurt a.M. 1974, S. 823–842, hier S. 835.
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Pieper, V. (2014). Narratologie und Interpretation. In: Blamberger, G., Breuer, I., de Bruyn, W., Müller-Salget, K. (eds) Kleist-Jahrbuch 2014. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-01374-3_14
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