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»Krieg gegen die Materie« — »Rehabilitation der Materie« Zur Problematik des ›ganzen Menschen‹ bei Friedrich Schiller und Heinrich Heine

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Heine-Jahrbuch 2012
  • 202 Accesses

Zusammenfassung

Das 18. Jahrhundert hatte einen Traum — den Traum vom ganzen Menschen.1 Es war dies im Grunde eine anthropologische Utopie, vergleichbar dem Zarathustra von Friedrich Nietzsche hundert Jahre später. Wie immer er genannt wurde: Shaftesbury’scher virtuoso, Rousseau’scher homme naturel, Winckelmanns Apo11 von Belvedere, Schillers ganzer Mensch, Goethes Wilhelm Meister; was für Denkmodelle sich mit ihm verbanden: Wieland’sche Lebenskunst (kalokagathia, urbanitas, aurea mediocritas), Moritz’sche In-sich-selbst-Vollendetheit, Herder’sche Humanität, Jean Paul’sche Vielkräftigkeit, Hölderlin’sche All-Einheit, Humboldt’sche Universalbildung —in der Literatur und Kultur der Sattelzeit um 1800 und desto mehr in der tatenarmen, aber gedankenvollen deutschen Literatur und Kultur nahm die Diskussion um den ganzen Menschen einen zentralen Platz ein. Und stets waren mit diesen Konzepten Antwortversuche auf die Frage nach dem richtigen Leben bzw. —in der zeitgenössischen Diktion — nach der Bestimmung des Menschen2 verbunden, und zwar in einem deskriptiven wie normativen Sinne, hinsichtlich seines faktischen So-seins und seines idealischen Seinsollens. Am Anfang stand freilich niemals der ganze, sondern der halbe, der geteilte, beschädigte, gebrochene, versehrte Mensch. Kulturkritik hatte schon in der Antike, etwa in der »Germania« des Tacitus, zu tun mit zivilisatorischen Missständen, und solche Übel waren auch dem 18. Jahrhundert nicht unbekannt.3 Sie lassen sich zusammenfassen unter den Obertitel »Entfremdung« und fanden ihren ersten lautstarken Ankläger in Rousseau, der die moderne Zivilisation für die Verstümmelung des natürlich-guten Menschen verantwortlich machte.

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Anmerkungen

  1. Vgl. Johann Joachim Spalding: Betrachtung über die Bestimmung des Menschen. Berlin 41752.

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  2. Zum Kontext: Kulturkritik. Reflexionen in der veränderten Welt. Hrsg. v. Ralf Konersmann. Leipzig 2001.

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  3. Friedrich Schiller: Sämtliche Werke in 5 Bänden. Auf der Grundlage der Textedition von Herbert G. Göpfert hrsg. v. Peter-André Alt, Albert Meier und Wolfgang Riedel. München 2004, hier Bd. 5, S. 584. Im folgenden im Text zitiert mit jeweiliger Band- und Seitenzahl.

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  4. Vgl. Wolfgang Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller. Zur ldeengeschichte der medizinischen Schriften und der »Philosophischen Briefe«. Würzburg 1985, bes. S. 61—151. Zum größeren Kontext auch: Marion Schmaus: Psychosomatik. Literarische, philosophische und medizinische Geschichten zur Entstehung eines Diskurses (1778–1936). Tübingen 2009 (bes. S. 27–43: »Der ganze Mensch. Herders ›Plastik‹ und Hallers Reizlehre«); Ralph Köhnen: Der ganze Mensch. Friedrich Schillers medizinische Konzepte im Horizont der zeitgenössischen Anthropologie. — In: Gesundheit im Spiegel der Disziplinen, Epochen, Kulturen. Hrsg. v. Dietrich Grönemever u. a. Tübingen 2008, S. 205–229.

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  5. Rüdiger Safranski: Friedrich Schiller oder Die Erfindung des Deutschen Idealismus. München, Wien 2004, S. 89.

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  6. Vgl. Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie. Stuttgart 21953.

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  7. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Auf der Grundlage der Werke von 1832–45 neu ed. Ausgabe. Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. 20 Bde. Frankfurt a. M. 1970, hier Bd. 13, S. 91: »Das Schöne ist also [sc. bei Schiller] als die Ineinsbildung des Ver-nünftigen und Sinnlichen und diese Ineinsbildung als das wahrhaft Wirkliche ausgesprochen.«

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  8. Rose Riecke-Niklewski: Die Metaphorik des Schönen. Eine kritische Lektüre der Ver-söhnung in Schillers »Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen«. Tübingen 1986, S. 101.

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  9. Peter-André Alt: Schiller. Leben — Werk — Zeit. 2 Bde. München 2000, hier Bd. 2, S. 134.

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  10. Vgl. Karl S. Guthke: Schillers Dramen. Idealismus und Skepsis. Tübingen, Basel 1994; Nikolas Immer: Der inszenierte Held. Schillers dramenpoetische Anthropologie. Heidelberg 2008.

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  11. Vgl. Walter Hinderer: Utopische Elemente der ästhetischen Anthropologie. — In: Ders.: Von der ldee des Menschen. Über Friedrich Schiller. Würzburg 1998, S. 132–141.

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  12. Vgl. auch Karl Robert Mandelkow: Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers. Bd. I: 1773–1918. München 1980, S. 126–136.

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  13. Vgl. Wilhelm Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing. Goethe. Novalis. Hölderlin. 2., erw. Aufl. Leipzie 1907, S. 374f.

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  14. Vgl. Friedrich Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hrsg. v. Ernst Behler u. a. München u. a. 1958 ff. , Bd. i8, S. XIII. »In meinem Leben und philosophischen Lehrjahren ist ein beständiges Suchen nach der ewigen Einheit (in der Wissenschaft und in der Liebe) und ein Anschließen an ein äußeres historisch Reales oder ideal Gegebenes (zuerst Idee der Schule und einer neuen Religion der ldeen), dann Anschließen an den Orient, an das Deutsche, an die Freiheit der Poesie, endlich an die Kirche, da sonst überall das Suchen nach Freiheit und Einheit vergeblich war. War jenes Anschließen nicht ein Suchen nach Schutz, nach einem festen Fundamente?«

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  15. Vgl. Richard Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität. Übersetzt v. Christa Krüger. Frankfurt a. M. 1992. Schillers Horror vor der »Materie«, vor der bloßen Materialität des Seins ist verwandt mit dem Horror vacui, dem Schrecken vor der metaphysischen Leere in einem bloß mechanistischen Universum. Er begegnet bei F. H. Jacobi (vgl. Jacobis Bemerkung im sog. Pan- theismusstreit: dass hier »von reiner Metaphysik gegen reine Metaphysik die Rede war. Und das dem eigentlichen, nicht dem sprüchwörtlichen Sinne nach: infugam vacui.« Die Hauptschriften zum Pantheismusstreit zwischen Jacobi und Mendelssohn. Hrsg. v. Heinrich Scholz. Berlin 1916, S. 128) ebenso wie beim frühen Schiller selbst, in dessen medizinischen Schriften die Liebes-philosophie die »große Kette der empfindenden Wesen« zusammenhält (Safranski: Friedrich Schiller [Anm. 9], S. 85). Beide Male geht es im Kern um die Anfechtungen der Kontingenz. Umgekehrt sind theosophischer Liebesschmelz wie kantischer ldealismus Rezepturen wider diese Kontingenz, Gedankengebäude, die das Ich vor dem Sturz in die Bodenlosigkeit eines nur kontingenten, sich bloß ereignenden und nicht auch idealisch geleiteten Lebens bewahren sollen.

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Rohde, C. (2012). »Krieg gegen die Materie« — »Rehabilitation der Materie« Zur Problematik des ›ganzen Menschen‹ bei Friedrich Schiller und Heinrich Heine. In: Brenner-Wilczek, S. (eds) Heine-Jahrbuch 2012. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-00815-2_3

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-00815-2_3

  • Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart

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