Zusammenfassung
Den vorangestellten markigen Thesen Gottfried Benns zur Geschichte aus dem Jahre 1929 wird man heute mit einer Selbstverständlichkeit zustimmen wollen, dass einzig die betonte Negation — »kein Bluff« — etwas irritiert. Anscheinend musste sich Benn noch von einer Auffassung distanzieren, die das Gegenteil unterstellt: einen Sinn in der Geschichte. Mein Aufsatz versucht einen kurzen Einblick in die Genese dieses »Bluff[s]« zu geben, indem ich ihn als Geschichtsvertrauen deute, das sich Ende des 18. Jahrhunderts entwickelt und im 20. Jahrhundert wieder verschwindet.
Die Geschichte ist ohne Sinn, keine Aufwärtsbewegung, keine Menschheitsdämmerungen; keine Illusionen darüber, kein Bluff. Die Geschichte ist der Schulfall des Fragmentarischen, ein Motiv Orient, eine Mythe Mittelmeer; sie übersteht den Niagara, um in der Badewanne zu ertrinken; die Notwendigkeit ruft und der Zufall antwortet. Ecce historia!
Gottfried Benn 1929
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Anmerkungen
Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1979, S. 12.
Andreas Urs Sommer, Sinnstiftung durch Geschichte. Zur Entstehung spekulativ-universalistischer Geschichtsphilosophie zwischen Bayle und Kant, Basel 2006, S. 200.
Reinhart Koselleck, Erfahrungsraum und Erwartungshorizont — zwei historische Kategorien (1976). In: Ders., Vergangene Zukunft (wie Anm. 1), S. 349–375, hier S. 364.
Odo Marquard, Der angeklagte und der entlastete Mensch in der Philosophie des 18. Jahrhunderts (1978). In: Ders., Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart 2005, S. 39–66, hier S. 40.
Vgl. Reinhart Koselleck, Über die Verfügbarkeit der Geschichte (1977). In: Ders., Vergangene Zukunft (wie Anm. 1), S. 260–277, hier S. 266.
Anne Robert Jacques Turgot, Über die Fortschritte des menschlichen Geistes (1750), hg. von Johannes Rohbeck und Lieselotte Steinbrügge, Frankfurt a.M. 1990; Marie Jean Antoine Nicolas Caritat, Marquis de Condorcet, Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes (1794), zit. nach Karl-Heinz Lembeck, Geschichtsphilosophie, Freiburg i.Br. und München 2000, S. 53–61.
Rudolf Vierhaus, Was war Aufklärung? (Kleine Schriften zur Aufklärung; 7), hg. von der Lessing-Akademie Wolfenbüttel, Göttingen 1995, S. 7f.
Vgl. Ludwig Landgrebe, Phänomenologie und Geschichte, Darmstadt 1968, S. 46.
Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: ›Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis‹; Zum ewigen Frieden, ein philosophischer Entwurf, mit Einleitung, Anmerkungen, Bibliographie, Verzeichnis der Vorarbeiten, Personen- und Sachregister, hg. von Heiner Klemme, Hamburg 1992 (= Meiner-Ausgabe), S. 41.
Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784). In: Ders., Schriften zur Geschichtsphilosophie, hg. von Manfred Riedel, Stuttgart 1994, S. 21–39, hier S. 29.
Heinz Dieter Kittsteiner, Listen der Vernunft. Motive geschichtsphilosophischen Denkens, Frankfurt a.M. 1998, S. 8.
Heinz Dieter Kittsteiner, Kants Theorie des Geschichtszeichens. Vorläufer und Nachfahren. In: Geschichtszeichen, hg. von Heinz Dieter Kittsteiner, Köln u.a. 1999, S. 81–115, hier S. 82.
Johann Wolfgang Goethe, Faust. Der Tragödie erster Teil, Stuttgart 2000, Vs. 1335f. 31 Vgl. Albert O. Hirschman, Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg, Frankfurt a.M. 1987.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, Band 1: Die Vernunft in der Geschichte, hg. von Johannes Hoffmeister, Hamburg 1955, S. 79. »Man kann es die List der Vernunft nennen, daß sie die Leidenschaften für sich wirken läßt« (S. 105).
Georg Bollenbeck, Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseau bis Günter Anders, München 2007, S. 9.
Vgl. Georg Simmel, Der Begriff und die Tragödie der Kultur. In: Ders., Philosophische Kultur, Leipzig 1911, S. 245–277.
Arnold Gehlen, Über kulturelle Kristallisation. In: Arnold-Gehlen-Gesamtausgabe, hg. von Karl-Siegbert Rehberg, Bd. 6: Die Seele im technischen Zeitalter und andere sozialpsychologische, soziologische und kulturanalytische Schriften, Frankfurt a.M. 2004, S. 298– 314, hier S. 300. Vgl. Arnold Gehlen, Ende der Geschichte. In: Ebd., S. 336–351.
Ernst August Friedrich Klingemann, Nachtwachen. Von Bonaventura, hg. von Steffen Dietzsch mit 16 Radierungen von Michael Diller, Leipzig 1991, S. 52.
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Lahl, A. (2012). »… Dass die Natur Unseren Hoffnungen Keine Grenzen Gesetzt Hat.«. In: Blamberger, G., Breuer, I., de Bruyn, W., Müller-Salget, K. (eds) Kleist-Jahrbuch 2012. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-00814-5_26
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