Zusammenfassung
Über ›Kleists letzte Stunden‹2 und die näheren Umstände seines Todes sind wir gut informiert, so gut wie über keine andere Phase seines ereignisreichen und produktiven Daseins. Die Biographen können viel Material präsentieren,3 und es ist nicht unüblich, dass ihre Bücher mit einem Kapitel ›Tod am Wannsee‹ beginnen und mit einem Abschnitt ›Reifsein zum Tode‹ enden.4 Indessen fehlen, so ist nüchtern anzumerken, die wirklich ›letzten Worte‹ oder ›letzten Sätze‹ des großen Dichters. Das Personal von Stimmings Krug war (leider?) zu weit entfernt vom todeswilligen Paar, um anderes als Pistolenschüsse zu hören. Es mangeln uns, den späten Verehrern, letzte Sätze von solcher Art, dass man sie als testamentarische Anrede an die Nachwelt verstehen und gebrauchen könnte. Zwar hat Kleist seinen und Henriette Vogels Todesfall perfekt organisiert, er hat verfügt, dass der Barbier bezahlt wird und der Vermieter ein Andenken erhält. Aber die kommenden Leser der Dramen und Erzählungen empfangen keine explizite Botschaft. In den letzten Stunden sind private Abschiedsbriefe geschrieben worden, gerichtet an Marie undUlrike von Kleist sowie an Sophie Müller. Sie enthalten prägnante, eindrucksvolle Formulierungen der Melancholie und der Todessehnsucht, und darum laden sie dazu ein, immer wieder zitiert zu werden. Als letztwilliger Kommentar des Autors Kleist zu seiner literarischen Arbeit und künstlerischen Leistung allerdings taugen sie nicht, zumal sie keine andere Qualität haben als jene Bekundungen tiefsten Lebensüberdrusses, welche man schon Jahre zuvor in den Briefen lesen konnte.5
Der vorliegende Text wurde am 18. November 2011 in Berlin vorgetragen und konnte nur wenig verändert, vor allem nicht erweitert werden. Auf die Kleist-Forschung differenziert hinzuweisen, war nicht möglich, weil die Zahl der notwendigen Anmerkungen sehr groß geworden wäre. Zur bibliographischen Information sei verwiesen auf Ingo Breuer (Hg.), Kleist-Handbuch. Leben — Werk — Wirkung, Stuttgart und Weimar 2009 sowie Klaus Müller-Salget, Heinrich von Kleist, Stuttgart 2 2011. Kleists Texte werden mit Band- und Seitenangaben zitiert nach der Münchener Ausgabe (MA).
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Anmerkungen
Vgl. Georg Minde-Pouet (Hg.), Kleists letzte Stunden. Teil I, Berlin 1925 (Reprint Heilbronn 2004).
Unter den vielen Biographien ragen deutlich hervor: Herbert Kraft, Kleist. Leben und Werk, Münster 2007 und Günter Blamberger, Heinrich von Kleist. Biographie, Frankfurt a.M. 2011. Beide legen besonderen Wert auf die Liebes-Litanei der Sterbenden, welche freilich nicht zu datieren ist.
So zum Beispiel Peter Bekes, Heinrich von Kleist. Leben und Werk, Stuttgart 1990 und Hans Dieter Zimmermann, Kleist, die Liebe und der Tod, Frankfurt a.M. 1989.
Vgl. als Übersicht schon Walter Müller-Seidel, Todesarten und Todesstrafen. Eine Betrachtung über Heinrich von Kleist. In: KJb 1985, S. 7–38.
Zum ›beschwerten Schluss‹ schon Jochen Schmidt, Heinrich von Kleist. Studien zu seiner poetischen Verfahrensweise, Tübingen 1974.
9 Vgl. Ernst Ribbat, Babylon in Huisum oder der Schein des Seins. Sprach- und Rechtsprobleme in Heinrich von Kleists ›Der zerbrochne Krug‹. In: Heinrich von Kleist. Studien zu Werk und Wirkung, hg. von Dirk Grathoff, Opladen 1988, S. 133–148.
Vgl. Justus Fetscher, Vorstellungen. Zur Erforschung von Kleists ›Amphitryon‹ in den Jahren 1978 bis 2001. In: Heinrich von Kleist. Neue Wege der Forschung, hg. von Inka Kording und Anton Philipp Knittel, Darmstadt 2003, S. 203–224.
Außerdem Franz M. Eybl, Das ›Ach‹ der Alkmene. In: Ders., Kleist-Lektüren, Wien 2007, S. 102–107.
Vgl. Birgit Hansen, Poetik der Irritation. ›Penthesilea‹-Forschung 1977–2002. In: Heinrich von Kleist (wie Anm. 19), S. 225–253.
Vgl. Rudolf Drux, Kunigundes künstlicher Körper. Zur rhetorischen Gestaltung und Interdiskursivität eines »mosaischen« Motivs aus Heinrich von Kleists Schauspiel ›Das Kätchen von Heilbronn‹. In: KJb 2005, S. 92–110, hier S. 107.
Vgl. Dorothea von Mücke, ›Prinz Friedrich von Homburg. Ein Schauspiel‹ oder Die Ästhetik der Verklärung. In: KJb 2002, S. 70–93.
Jochen Schmidt, Heinrich von Kleist. Die Dramen und Erzählungen in ihrer Epoche, Darmstadt 2003, S. 180.
Nur als Beispiel eines Trends, der 2011 in allen Medien sich manifestierte, Günter Kunert, Ein anderer K. Hörspiel, Stuttgart 1977;
Christa Wolf, Kein Ort. Nirgends, Berlin und Weimar 1979;
Clemens Meyer, Findlinge in den Spuren. In: Heinrich von Kleist. Das große Lesebuch, hg. von Clemens Meyer, Frankfurt a.M. 2011, S. 355–368.
Vgl. Gerhart Pickerodt, »Mein Cherubim und Seraph«. Engelsbilder bei Heinrich von Kleist. In: KJb 2006, S. 171–187.
Eine breite Präsentation der einschlägigen Texte bieten vor allem Gerhart Schulz, Kleist. Eine Biographie, München 2007, S. 495ff. (›Im Gefild des Todes‹)
und Peter Michalzik, Kleist. Dichter, Krieger, Seelensucher. Biographie, Berlin 2011, S. 432ff. (›Triumphgesang des Todes‹).
Johann Wolfgang von Goethe, Die Wahlverwandschaften. In: Ders., Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hg. von Erich Trunz, Bd. VI: Romane und Novellen. Erster Band, Hamburg 1958, S. 242–490, hier S. 490.
Vgl. Heinz Härtl (Hg.), Die Wahlverwandtschaften. Eine Dokumentation der Wirkung von Goethes Roman 1808–1832, Weinheim 1983.
Vgl. auch Elisabeth Herrmann, Die Todesproblematik in Goethes Roman ›Die Wahlverwandtschaften‹, Berlin 1998.
Vgl. Michalzik, Kleist (wie Anm. 18), S. 464–466 sowie Klaus Müller-Salget, Henriette Vogel als Sterbende Heilige Magdalena? Eine Klarstellung. In: KJb 2011, S. 163f.
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Ribbat, E. (2012). Letzte Sätze. In: Blamberger, G., Breuer, I., de Bruyn, W., Müller-Salget, K. (eds) Kleist-Jahrbuch 2012. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-00814-5_20
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