Zusammenfassung
Was die Amazone Penthesilea in vorangestelltem Motto nicht vermag, und was die Freundin Prothoe ihr als einzige erlässt, ist die Erfüllung ihrer Herrscherpflicht. Kleists Penthesilea agiert als Königin und vertritt damit als Einzelne das Gesetz, das die Gemeinschaft, das Volk der »Amazonen oder Busenlosen« (Vs. 1989),1 bis hin zur physischen Beschaffenheit bedingt. Penthesilea, die sich, wie alle Amazonen, der Amputation ihrer rechten Brust unterziehen muss, verkörpert als Königin konzentriert das, was alle anderen sein sollen. Problematisch wird es, sobald sie diese Verpflichtung zur Abbildung und sichtbaren Bestätigung von Amazonen-Sein und Amazonengesetz verwirft, indem sie anders handelt, als es ihr Status erfordert. Ihre Leidenschaft zu Achilles ist ihr qua Amazonengesetz verboten. Die körperliche Überwindung des männlichen Gegners, die das Gesetz fordert, ist Penthesilea nicht möglich. In einem zügellosen Gefühlsexzess schließlich ermordet sie den Begehrten und stellt sich damit außerhalb aller Normen des Amazonen-Seins.
Wenn du nicht kannst, nicht willst — seis! Weine nicht. Ich bleibe bei dir. Was nicht möglich ist, Nicht ist, in deiner Kräfte Kreis nicht liegt, Was du nicht leisten kannst: die Götter hüten, Daß ich es von dir fordre!
Penthesilea, Vs. 1271–1275
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Anmerkungen
Vgl. Nikolaus von Kues, De coniecturis, Pars secunda, Capitulum XIV, De homine, hg. von Ernst Hoffmann, Paul Wilpert und Karl Bormann, Hamburg 2002, S. 169f: »Da die Einheit der menschlichen Natur auf menschliche Weise eingeschränkt ist, faltet sie offensichtlich alles entsprechend dieser ihrer Arteinschränkung ein. Die Kraft ihrer Einheit umfaßt nämlich alles und schließt es so in die Grenzen ihres Bereiches ein, daß nichts von allem ihrer Möglichkeit entflieht. So mutmaßt sie, daß sie alles entweder mit den Sinnen oder mit der Vernunft oder mit dem Verstand erreichen kann, und indem sie diese Fähigkeiten in ihrer Einheit eingefaltet erblickt, setzt sie voraus, daß sie zu allem auf menschliche Weise kommen kann. Der Mensch ist nämlich Gott, allerdings nicht schlechthin, da er ja Mensch ist; er ist also ein menschlicher Gott. Der Mensch ist auch die Welt, allerdings nicht auf eingeschränkte Weise alles, da er eben Mensch ist; der Mensch ist also Mikrokosmos oder eine menschliche Welt. Der Bereich der menschlichen Natur umfaßt in seiner menschlichen Möglichkeit Gott und das Weltall. Der Mensch kann also ein menschlicher Gott sein.«
Immanuel Kant, Werke in 12 Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M. 1977, Bd. XI, S. 33.
So lautet der Titel von Butlers Schrift, auf die ich mich hier beziehe: Judith Butler, Kritik der ethischen Gewalt, aus dem Englischen von Reiner Ansén, Frankfurt a.M. 2003.
László F. Földényi bietet mit Bezug auf Platons ›Symposium‹ die interessante Inter-pretation eines homoerotischen Machtspiels zwischen dem Erzähler und Herrn C.s Anekdote über den beinamputierten Tänzer steht für Földényi nicht zuletzt dafür, »daß ein verstümmelter Körper in bestimmten Fällen zu mehr fähig ist als ein ganzer Körper« (László F. Földényi, Die Inszenierung des Erotischen. Heinrich von Kleist, ›Über das Marionetten-theater‹, übersetzt von Akos Doma. In: KJb 2001, S. 135–147, hier S. 143). Die Bevorzugung des beschädigten oder verstümmelten Körpers lässt in diesem Zusammenhang eine weitere Deutung zu. Vor dem Hintergrund des christlichen Primats der zweigeschlechtlichen Liebe steht die von diesem Ideal abweichende homosexuelle Liebe für die Unnatur des Menschen, in diesem Sinn für eine Verstümmelung seines im Zeichen der Fortpflanzung stehenden körperlichen Auftrags der Sexualität.
Auch Gerhard Neumann deutet das ›Marionettentheater‹ als anthropologischen Versuch Kleists. Den Sündenfall wertet er hierbei als Modell für den »aus dem Verbot [geborenen] Blick des Menschen auf sich selbst«. Im Zuge der von vorneherein beschädigten körperlichen Selbstreflexion des Menschen, die Neumann neben dessen sprachlicher Verfasst-heit als Teil von Kleists Anthropologie herausstellt, betont er die Diskrepanz zwischen idealem Körpervorbild und tatsächlichem Naturkörper: »Dazwischen aber, zwischen Gott und Tier, so Kleist, steht der Mensch. Nur sein Blick ist durch den Sündenfall gebrochen. Das ist es, was der Knabe zu Bewußtsein bringt, der im Spiegel seinen graziösen Körper gewahrt und ineins damit seinen Schwerpunkt schwanken sieht, dessen schwindenden Zauber wahrnimmt, weil Kulturkörper (das Ideal der griechischen Statue) und Naturkörper (der dem Bad entstiegene anmutsvolle Jüngling) sich dissoziieren, weil sie dem betrachtenden Auge den gemeinsamen perspektivischen Fluchtpunkt nicht mehr gewähren« (Gerhard Neumann, Das Stocken der Sprache und das Straucheln des Körpers. Umrisse von Kleists kultureller Anthropologie. In: Heinrich von Kleist. Rechtsfall — Kriegsfall — Sündenfall, hg. von Gerhard Neumann, Freiburg i.Br. 1994, S. 13–30, hier S. 19).
In seiner Einordnung des Sündenfalls als Vor-Fall bei Kleist versteht auch Urs Strässle die Gründungsgeschichte des Amazonenstaats als den Penthesilea bestimmenden Anfangsmythos (vgl. Urs Strässle, Heinrich von Kleist. Die keilförmige Vernunft, Würzburg 2002, S. 141).
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Müller, T. (2010). Marionettentheater/Menschentheater. In: Blamberger, G., Breuer, I., Müller-Salget, K. (eds) Kleist-Jahrbuch 2010. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-00563-2_14
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