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Entstelltes Ideal

Choreographie und Fehlleistung bei Heinrich von Kleist

  • Chapter
Kleist-Jahrbuch 2007
  • 190 Accesses

Zusammenfassung

Der Verlust der Grazie des sich selbst bewussten, mit sich uneins seienden Subjekts ist eine der Signaturen der Moderne spätestens ab 1800. Heinrich von Kleists Essay ›Über das Marionettentheater‹ liefert dafür die vielzitierte Parabel der Vertreibung aus dem Paradies. Gleichzeitig präsentiert der kurze Text im Bild der anmutigen Marionette eine gültige Formel graziöser Bewegung. Das Hauptmerkmal dieser Formel ist, so scheint es zunächst, das Antigrave, dessen metaphorischer Status im Sinne einer generellen Leichtigkeit in vorausgehenden ästhetischen Verhandlungen des Themas — vor allem in Schillers ›Über Anmut und Würde‹ — in die konkrete Form von Kleists schwerelosem Tanz übergeführt wird. Bewusst steht hier Kleists schwereloser Tanz, denn die Exposition der Grazie verläuft leichtfüßig sowohl auf sprachlicher wie auf inhaltlicher Ebene. Grazie, so könnte argumentiert werden, formuliert sich vor dem Hintergrund ihres Verlusts noch einmal als Versprechen; und zwar als ein Versprechen, das die Fragen der Ästhetik überschreitet und zur Metapher eines idealeren Daseins wird. Eckard Goebel hat diesen Sachverhalt folgendermaßen auf den Punkt gebracht:

Wie keineswegs nur das Beispiel Kleist zeigt, werden existenzielle Erfahrungen mit Vorzug als ein Ausdem-Tritt-Geraten, als Verlust des Gleichgewichts bebildert, oder als ein In-sich-Zusammensacken der gespannten Existenz, auf den der »Absturz« ins »Bodenlose« folge. Als inständig umworbene Gegenentwürfe zum »Absturz« treten daher elegante Figuren der Balance, des vollendeten Einstands in den Blick, die ihr Ideal von schlanker »Schönheit (in) der Bewegung« im Jongleur, Fechter, Tänzer, Akrobaten, Schlittschuhläufer, im jauchzenden Trampolinspringer und Trapezkünstler, im »Artisten« und seinen flüchtigen Figuren finden.1

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Anmerkungen

  1. Eckart Goebel, Charis und Charisma. Grazie und Gewalt von Winckelmann bis Heidegger, Berlin 2006, S. 80.

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  2. Paul. de Mans ›Ästhetische Formalisierung. Kleists ›Über das Marionettentheater‹‹ (in: Ders., Allegorien des Lesens, aus dem Amerikanischen von Werner Hamacher und Peter Krumme, Frankfurt a.M. 1988, S. 205–233) gilt als eine der einflussreichsten Studien zur Rhetorik des Textes und ist zum Bezugspunkt dekonstruktiver Lektüren geworden; Einschlägiges zu den rhetorischen Aspekten vor de Man ist schon zu fmden in: Clemens Heselhaus, Das Kleistsche Paradox. In: Kleists Aufsatz ›Über das Marionettentheater‹. Studien und Interpretationen, hg. von Helmut Sembdner, Berlin 1967, S. 112–131;

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  3. Beda Allemann, Sxinn und Unsinn von Kleists Gespräch ›Über das Marionettentheater‹. In: KJb 1981/82, S. 50–65;

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  4. Gerhard Kurz, »Gott befohlen«. Kleists Dialog ›Über das Marionettentheater‹ und der Mythos vom Sündenfall des Bewußtseins. In: KJb 1981/82, S. 264–277.

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  5. Vgl. die semantische Nähe von ›Reiz‹ und ›Grazie‹ im klassizistischen Kontext, etwa in Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste, 5 Bände, Leipzig 1792–94, Reprint Hildesheim 1967–70. Sulzer beginnt das Lemma »Reiz« folgendermaßen: »Wir nehmen dieses Wort in der Bedeutung, für welche verschiedene unsrer neuesten Kunstrichter das Wort Grazie brauchen«; Band 4, S. 98. Vgl. aus physiologischer Perspektive Philipp Sarasin, Reizbare Maschinen: Eine Geschichte des Körpers 1765–1914, Frankfurt a.M. 2001.

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  7. Günter Blamberger, Ars et Mars. Grazie als Schlüsselbegriff der ästhetischen Erziehung von Aristokraten. Anmerkungen zu Castiglione und Kleist. In: Resonanzen. Festschrift für Hans Joachim Kreutzer zum 65. Geburtstag, hg. von Sabine Doering, Waltraud Maierhofer und Peter Philipp Riedl, Würzburg 2000, S. 273–281, hier S. 280. Die Bezeichnung »Klugheitslehren« bezieht sich auf Blambergers Kontextualisierung der Kleistschen Gedankenfiguren mit der europäischen Moralistik, siehe hierzu auch ders, Agonalität und Theatralität. Kleists Gedankenfigur des Duells im Kontext der europäischen Moralistik. In: KJb 1999, S. 25–40; ders., Antiparastatische Genies (wie Anm. 6).

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  8. Vgl. von der Perspektive der tänzerischen Bewegungsbeherrschung her Lucia Ruprecht, Dances of the Self in Heinrich von Kleist, E.T.A. Hoffmann and Heinrich Heine, Aldershot 2006, S. 47–55.

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  9. Vgl. Friedrich Schiller, Kallias oder über die Schönheit. In: Ders., Kallias oder über die Schönheit. Über Anmut und Würde, Stuttgart 1994, S. 3–65, hier S. 39. Bei Kleist werden die Paradoxien des Grazie-Konzepts, die besonders Schiller ebenso mühsam aufzustellen wie aufzulösen versucht, zum poet(ologi)schen Programm. Vgl. hierzu Helmut J. Schneider, Dekonstruktion des hermeneutischen Körpers.

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  11. Zu dieser Figur aus philosophischer und physikalischer Perspektive siehe Bernhard Greiner, Sturz als Halt. Kleists dramaturgische Physik. In: KJb 2005, S. 67–78.

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  13. Sigmund Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, 1. Teil. In: Ders., Studienausgabe, Band 1, hg. von Alexander Mitscherlich, James Strachey, Angela Richards, Frankfurt a.M. 1989, S. 39–98, hier S. 81.

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  14. Vgl. zu dieser Lesart Hansjörg Bay, Mißgriffe. Körper, Sprache und Subjekt in Kleists ›Über das Marionettentheater‹ und ›Penthesllea‹. In: Krisen des Verstehens um 1800, hg. von Sandra Heinen und Harald Nehr, Würzburg 2004, S. 169–190, hier S. 182ff.

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  15. Vgl. Gerhard Neumann, Das Stocken der Sprache und das Straucheln des Körpers. Umrisse von Kleists kultureller Anthropologie. In: Heinrich von Kleist. Kriegsfall — Rechtsfall — Sündenfall, hg. von Gerhard Neumann, Freiburg i. Br. 1994, S. 13–30.

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  16. Bettine Menke spricht mit Bezug auf ›Penthesilea‹ vom »›Körper‹ als Auswurf der symbolischen Ordnung […] — dort, wo die phantasmatische Konstruktion, die Imagination seiner Ganzheit und Unversehrtheit nicht hält, zerfällt, zerrissen wird.« In: Dies., Körper-Bild und -Zerfällung, Staub. Über Heinrich von Kleists ›Penthesilea‹. In: Körper — Gedächtnis — Schrift. Der Körper als Medium kultureller Erinnerung, hg. von Claudia Öhlschläger und Birpit Wiens_ Berlin 1997_ S. 122–156, hier S. 122.

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  17. Friedrich Schiller, Über Anmut und Würde. In: Ders., Kallias oder über die Schönheit. Über Anmut und Würde, Stuttgart 1994, S. 67–136, hier S. 71;

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  18. Johann Joachim Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, Stuttgart 1999, S. 6ff.

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  19. Gabriele Brandstetter, The Code of Terpsichore. Carlo Blasis’ Tanztheorie zwischen Arabeske und Mechanik. In: Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800, hg. von Gabriele Brandstetter und Gerhard Neumann, Würzburg 2004, S. 49— 72, hier S. 57.

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  20. Vgl. hierzu Daniel Purdy, Sculptured Soldiers and the Beauty of Discipline. Herder, Foucault and Masculinity. In: Body Dialectics in the Age of Goethe, hg. von Marianne Henn und Holger A. Pausch, Amsterdam 2003, S. 23–45.

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  21. Vgl. Simon Richter, Laocoon’s Body and the Aesthetics of Pain: Winckelmann, Herder, Lessing, Moritz, Goethe, Detroit 1992.

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  22. Inka Mülder-Bach, Sichtbarkeit und Lesbarkeit. Goethes Aufsatz ›Über Laokoon‹ (29.01.2004). In: Goethezeitportal, www.goethezeitportal.de/db/wiss/goethe/ laokoon_muelder-bach.pdf (5.4.2007), S. 1f.

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  23. Heinrich Heine, Die Romantische Schule. In: Ders., Historisch-Kritische Gesamtausgabe der Werke, hg. von Manfred Windfuhr, Bd. 8/1, Hamburg 1979, S. 121–243, hier S. 126. 34 Gerhard Kurz, »Gott befohlen« (wie Anm 2, S. 270), hat in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam gemacht, dass im Mittelalter der Dorn im Fuß als Symbol der Erbsünde galt. Hansjörg Bay, Mißgriffe (wie Anm. 20, S. 178, Anm. 20), greift das auf und bezieht den Splitter, in den sich der Dorn bei Kleist verwandelt, auf den biblischen Splitter im Auge (vgl. Matth. 7, 1–5), »der auf die Trübung des menschlichen Urteilsvermögens« verweise, sich gleichzeitig aber auch in »jenen ›Dorn im Auge‹, an dem ein Blick Anstoß nimmt«, übersetzen lasse. Die »scheinbar so selbstvergessene Tätigkeit« des Dornausziehers sei demnach »eine (Wieder-)Herstellung der körperlichen Unschuld, Integrität und Geschlossenheit auch und gerade für einen kontrollierenden Blick«. Dem kann ich nur hinzufügen, dass bei Kleist die Tyrannei des verinnerlichten kontrollierenden Blicks nicht weniger grausam ist als die des äußeren; und die Arretierung der Statue im Prozess der Wundpflege diesen als potentiell unabschließbaren ausweist.

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Günter Blamberger Gabriele Brandstetter Ingo Breuer Sabine Doering Klaus Müller-Salget

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Ruprecht, L. (2007). Entstelltes Ideal. In: Blamberger, G., Brandstetter, G., Breuer, I., Doering, S., Müller-Salget, K. (eds) Kleist-Jahrbuch 2007. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-00319-5_6

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