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Choreographie und Regelung

Bewegungsfiguren nach Kleists ›Marionettentheater‹

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Kleist-Jahrbuch 2007
  • 190 Accesses

Zusammenfassung

Es gehört zu den Obliegenheiten der Naturwissenschaften, die Differenzen zwischen den unterschiedlichen Seinsarten und Naturreichen zu schärfen. So ist es ihnen darum zu tun, möglichst geeignete Kriterien zur Bestimmung und zur Abgrenzung von Menschen, Tieren und bloßen Gegenständen anzugeben.4 Anders ist es um die Kultur bestellt, die eines ihrer zentralen Phantasmen gerade aus dem Unterlaufen dieser Grenze zieht. Menschen, Tiere und Gegenstände, vom technischen Artefakt bis zu einem bloßen Ding in der Umwelt, erscheinen in dieser Hinsicht als relativ zueinander positionierbar und nicht als kategorial voneinander getrennt.5 Der Versuch, die Grenzen der Seinsarten zu unterlaufen, unterläuft dabei selbst jene Rationalität, die als herausgestellte Eigenart des Menschen Tieren, Pflanzen und nicht zuletzt auch Maschinen durch eine ebenso lang andauernde wie beredte Tradition in Abrede gestellt wird.6 Diese nicht als Verlust, sondern umgekehrt als Spezifikum einer auf Steigerung angelegten Moderne zu veranschlagen, ist ein Topos eben dieser Moderne, der eines seiner erzählbaren Exempla mit den Beispielen aus Heinrich von Kleists Abhandlung ›Über das Marionettentheater‹ aus dem Jahr 1810 gefunden hat: In den Episoden vom Tänzer und der Marionette, von dem durch einen Spiegel um seine Unschuld gebrachten Jüngling und dem fechtenden Bären sind Konstellationen gegeben, die allesamt um Begriff und Sache einer phänomenalen Identität kreisen.7 Wie etwa erfahren (und wie versichern sich Lebewesen) ihrer eigenen Identität — in einer Lebenswelt, in der sie es mit Marionetten, mit Tieren und eben auch mit ihresgleichen zu tun haben?8

Wenn also die Engel tanzen, so componirt sich das Musikstück wie von selbst dazu; sie tanzen Klangfiguren. Dieß ist die wahre Harmonie der Sphären, der wunderschönen Augen, der Engel.1

Ein umständliches Experiment, durch tonfilmische Aufnahmen in den musikalischen Gehalt der Sprache H. v. Kleists einzudringen, ist in der ungedruckt gebliebenen Dissertation von Alb. Mittringer, Heinr. v. Kleist. Ein Beitrag zum Problem der musikalischen Dichtung (Wien 1932) gemacht worden. Die Versuche, die in der psycho-physiologischen Philologie die Lösung der Stilprobleme suchen, scheinen wenigstens zu dem keineswegs überraschenden Ergebnis geführt zu haben, daß auch bei verschiedenen Personen, die dieselbe Stelle zum Vortrag bringen, eine gewisse rhythmisch-melodische Gleichheit zu finden ist.2

Die menschlichen Bewegungsfiguren müssen daher in ungemeinem Maße unangepaßt, aber anpassungsfähig sein, also sowohl unspezialisiert wie plastisch. Diese Notwendigkeit begegnet uns so in ihrer Plastizität. Plastizität bedeutet aber: aus einem noch nicht funktionierenden Fächer von Möglichkeiten ist durch Selbsttätigkeit, im Umgang mit den Dingen, eine Auswahl herauszuheben und eine variable Führungsordnung aufzubauen.3

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Anmerkungen

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  28. Viktor von Weizsäcker, Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen. In: Ders., Gesammelte Schriften, 4. Bd., Frankfurt a.M. 1997, Vorrede zur 4. Auflage. S. 90.

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Günter Blamberger Gabriele Brandstetter Ingo Breuer Sabine Doering Klaus Müller-Salget

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Rieger, S. (2007). Choreographie und Regelung. In: Blamberger, G., Brandstetter, G., Breuer, I., Doering, S., Müller-Salget, K. (eds) Kleist-Jahrbuch 2007. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-00319-5_13

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