Zusammenfassung
Es gehört zu den Obliegenheiten der Naturwissenschaften, die Differenzen zwischen den unterschiedlichen Seinsarten und Naturreichen zu schärfen. So ist es ihnen darum zu tun, möglichst geeignete Kriterien zur Bestimmung und zur Abgrenzung von Menschen, Tieren und bloßen Gegenständen anzugeben.4 Anders ist es um die Kultur bestellt, die eines ihrer zentralen Phantasmen gerade aus dem Unterlaufen dieser Grenze zieht. Menschen, Tiere und Gegenstände, vom technischen Artefakt bis zu einem bloßen Ding in der Umwelt, erscheinen in dieser Hinsicht als relativ zueinander positionierbar und nicht als kategorial voneinander getrennt.5 Der Versuch, die Grenzen der Seinsarten zu unterlaufen, unterläuft dabei selbst jene Rationalität, die als herausgestellte Eigenart des Menschen Tieren, Pflanzen und nicht zuletzt auch Maschinen durch eine ebenso lang andauernde wie beredte Tradition in Abrede gestellt wird.6 Diese nicht als Verlust, sondern umgekehrt als Spezifikum einer auf Steigerung angelegten Moderne zu veranschlagen, ist ein Topos eben dieser Moderne, der eines seiner erzählbaren Exempla mit den Beispielen aus Heinrich von Kleists Abhandlung ›Über das Marionettentheater‹ aus dem Jahr 1810 gefunden hat: In den Episoden vom Tänzer und der Marionette, von dem durch einen Spiegel um seine Unschuld gebrachten Jüngling und dem fechtenden Bären sind Konstellationen gegeben, die allesamt um Begriff und Sache einer phänomenalen Identität kreisen.7 Wie etwa erfahren (und wie versichern sich Lebewesen) ihrer eigenen Identität — in einer Lebenswelt, in der sie es mit Marionetten, mit Tieren und eben auch mit ihresgleichen zu tun haben?8
Wenn also die Engel tanzen, so componirt sich das Musikstück wie von selbst dazu; sie tanzen Klangfiguren. Dieß ist die wahre Harmonie der Sphären, der wunderschönen Augen, der Engel.1
Ein umständliches Experiment, durch tonfilmische Aufnahmen in den musikalischen Gehalt der Sprache H. v. Kleists einzudringen, ist in der ungedruckt gebliebenen Dissertation von Alb. Mittringer, Heinr. v. Kleist. Ein Beitrag zum Problem der musikalischen Dichtung (Wien 1932) gemacht worden. Die Versuche, die in der psycho-physiologischen Philologie die Lösung der Stilprobleme suchen, scheinen wenigstens zu dem keineswegs überraschenden Ergebnis geführt zu haben, daß auch bei verschiedenen Personen, die dieselbe Stelle zum Vortrag bringen, eine gewisse rhythmisch-melodische Gleichheit zu finden ist.2
Die menschlichen Bewegungsfiguren müssen daher in ungemeinem Maße unangepaßt, aber anpassungsfähig sein, also sowohl unspezialisiert wie plastisch. Diese Notwendigkeit begegnet uns so in ihrer Plastizität. Plastizität bedeutet aber: aus einem noch nicht funktionierenden Fächer von Möglichkeiten ist durch Selbsttätigkeit, im Umgang mit den Dingen, eine Auswahl herauszuheben und eine variable Führungsordnung aufzubauen.3
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Anmerkungen
Fechner, zit. nach Bertholf Oelze, Gustav Theodor Fechner, Seele und Beseelung, Münster und New York 1989. S. 47.
Julius Petersen, Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methoden der Literaturwissenschaft, mit Beiträgen aus dem Nachlaß hg. von Erich Trunz, Berlin 21944, S. 600.
Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Wiesbaden 131997, S. 165.
Zur Differenzierung der Rede von den Gegenständen unter Einbezug der Umwelt vgl. Fritz Heider, Ding und Medium, hg. und mit einem Vorwort versehen von Dirk Baecker, Berlin 2005.
Zu einer entsprechenden Relativität der Seinsarten vgl. Max Bense, Quantenmechanik und Daseinsrelativität. Eine Untersuchung über die Prinzipien der Quantenmechanik und ihre Beziehung zu Schelers Lehre von der Daseinsrelativität der Gegenstandsarten. In: Ders., Ausgewählte Schriften, Bd. 2 (Philosophie der Mathematik, Naturwissenschaft und Technik), Stuttgart und Weimar 1998, S. 1–101.
Zur Geschichte dieser Abgrenzung vgl. Giorgio Agamben, Das Offene. Der Mensch und das Tier, Frankfurt a.M. 2002 sowie Benjamin Bühler und Stefan Rieger, Vom #x00DC;bertier. Ein Bestiarium des Wissens, Frankfurt a.M. 2006, v.a. Einleitung (S. 7–13) und Homo-Nix-Sapiens (S. 279–2911.
Dominant sind dabei Untersuchungen aus der Wahrnehmungspsychologie. Vgl. dazu etwa Josef Ternus, Experimentelle Untersuchungen über phänomenale Identität, Berlin 1925.
Zur Aufwertung der Gegenstände vgl. Bernward Joerges, Technik. Körper der Gesellschaft. Arbeiten zur Techniksoziologie, Frankfurt a.M. 1996.
Erich von Holst, Von der Mathematik der nervösen Ordnungsleistung. In: Experientia, IV/10 (1948), S. 374–381, hier S. 374.
Zu den Details und den Medien der Gangartenregistrierung Erich von Holst, Uber das Laufen der Hundertfüßer (Chilopoden). In: Zoologische Jahrbücher 54, Abteilung für allgemeine Zoologie und Physiologie (1934), S. 157–179.
Vgl. dazu Stefan Rieger, Barsch. In: Benjamin Bühler und ders., Vom Übertier. Ein Bestiarium des Wissens, Frankfurt a.M. 2006, S. 47–59 sowie ders., Barsch-Verfassungen. Zur Politik koordinierter Führune (im Druck).
Dazu Erich von Holst, Der Physiologe und sein Versuchstier. In: Ders., Zur Verhaltensphysiologie bei Tieren und Menschen. Gesammelte Abhandlungen, Bd. II, München 1970, S. 247–252.
Zur Plastizität vgl. Albrecht Bethe, Allgemeine Anatomie und Physiologie des Nervensystems, Leipzig 1903.
Zu dieser, auch performativ eingängigen Formulierung vgl. den Abschnitt ›Veränderung der Koordination durch Tierverkürzung‹ in Erich von Holst, Uber die Ordnung und Umordnung der Beinbewegungen bei Hundertfüßern (ChIlopoden). In: Pflügers Archiv für die gesamte Physiologie des Menschen und der Tiere 234 (1934), S. 101–113, hier S. 105.
Zur Kritik Helmuth Plessner und Frederik J J. Buytendijk, Die physiologische Erklärung des Verhaltens. Eine Kritik an der Theorie Pawlows. In: Acta biotheoretica, Volumen I, 1935, S. 151–172, sowie zu möglichen Alternativen Frederik J. J. Buytendijk und Paul Christian, Kybernetik und Gestaltkreis als Erklärungsprinzipien des Verhaltens. In: Der Nervenarzt 34 (März 1963), S. 97–104. Vgl. übergreifend Arturo Rosenblueth, Norbert Wiener, Julian Bigelow, Behavior, Purpose, and Teleology. In: Philosophy of Science X (1943), S.18–24.
Zum Sachstand dieser Ausdifferenzierung: Charles P. Snow, Die zwei Kulturen. Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz, Stuttgart 1967.
Vgl. Christan-Paul Berger, Bewegungsbilder. Kleists Marionettentheater zwischen Poesie und Physik, Paderborn 2000.
Zur psychologischen Aufmerksamkeit vgl. auch Johannes Bathe, Die Bewegungen und Haltungen des menschlichen Körpers in Heinrich von Kleists Erzählungen, Diss. Tübingen 1917.
Zur Literatur als statistisch auszuwertendem Bewegungsspeicher vgl. auch Wera Kostowa, Die Bewegungen und Haltungen des menschlichen Körpers in Conrad Ferdinand Meyers Erzählungen. Eine psychologisch-statistische Untersuchung. In: Zeitschrift für angewandte Psychologie 11 (Leipzig 1916), S. 29–89.
Vgl. Paul Christian, Möglichkeiten und Grenzen der naturwissenschaftlichen Betrachrung der menschlichen Bewegung. In: Jahrbuch für Psychologie und Psychopathologie 4,2 (1956), S. 346–356.
Dazu Stefan Rieger, Kybernetische Anthropologie. Eine Geschichte der Virtualität, Frankfurt a.M. 2003.
Zum Grundversuch vgl. Paul Christian, Die Willkürbewegung im Umgang mit beweglichen Mechanismen. Berlin und Heidelbere 1948.
Zum Verhältnis von Poesie und Physik vgl. Berger, zur Übertragung von Pendel auf menschliche Glieder und ihren Freiheitsgraden vgl. Dirk Baecker, Form und Formen der Kommunikation, Frankfurt a.M. 2005, S. 63f. Dort vor allem mit Bezug auf die Gelenkstudien bei Hans Bellmer, Die Puppe, Berlin 1962. Otto Fischer, Zur Kinematik der Gelenke vom Typus des Humero-Radialgelenks, Leipzig 1913 (Abhandlungen der mathematisch-physischen Klasse der königlich sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften; 32).
Paul Christian, Vom Wertbewußtsein im Tun. Ein Beitrag zur Psychophysik der Willkürbewegung. In: Frederik J. J. Buytendijk, Paul Christian, Herbert Plügge, Über die menschliche Bewegung als Einheit von Natur und Geist, Schorndorf bei Stuttgart 1963 (Beiträge zur Lehre und Forschung der Leibeserziehung; 14), S. 19–44, hier S. 34f. Damit gelangen ausgesprochen kulturell gesättigte Beschreibungskategorien ins Spiel solcher Aussagesysteme. Die Rede ist vom Bewegungsluxus, von der grotesken Überzeichnung, von der Grimasse bis hin zu Formen des Manierismus. Zu dieser Semantik und ihrer Verwendung in der Neurologie vgl. Lauretta Bender und Paul Schilder, Mannerism as Organic Motility Syndrome (Paracortical Disturbances). In: Confinia Neurologica III, fasc. 6 (1941), S. 321— 330.
Christian, Vom Wertbewußtsein im Tun (wie Anm. 34), S. 22f. Vgl. Peter Fuchs, Die Metapher des Systems. Studien zu der allgemein leitenden Frage, wie sich der Tänzer vom Tanz unterscheiden lasse, Weilerswist 2001.
Vgl. dazu etwa Hubertus Tellenbach, Phänomenologisch-biologische Konzeptionen des Prinzen Auersperg. In: Leibliche Bedingungen und personale Entfaltung der Wahrnehmung. Ein Symposium von Ärzten, Psychologen, Philosophen zum Werk von Alfred Auersperg, hg. von Therese zu Oettingen-Spielberg und Hermann Lang, Würzburg 1994, S. 17–27.
Nicht minder enthusiastisch nimmt Arnold Gehlen Bezug auf »die ausgezeichnete Studie von P. Christian, Die Willkürbewegung im Umgang mit beweglichen Mechanismen (Sitzungsber. Heidelb. Akademie d. Wiss. 1948)«, in der Christian zu Formulierungen gelangt, »die sich z. T. wörtlich mit unseren treffen«; Gehlen, Der Mensch (wie Anm. 3), S. 192. Zur Verschränkung unterschiedlicher Wissensformen bei Gehlen vgl. Benjamin Bühler, Lebende Körper. Biologisches und anthropologisches Wissen bei Rilke, Döblin und Jünger, Würzburg 2004 (Studien zur Kulturpoetik; 3).
Viktor von Weizsäcker, Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen. In: Ders., Gesammelte Schriften, 4. Bd., Frankfurt a.M. 1997, Vorrede zur 4. Auflage. S. 90.
Viktor von Weizsäcker, Der Gestaltkreis, dargestellt als psychophysiologische Analyse des optischen Drehversuchs. In: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, Frankfurt a.M. 1997, S. 54.
Paul Christian und Renate Haas, Wesen und Form der Bipersonalität. Grundlagen für eine medizinische Soziologie, Stuttgart 1949, S. 24.
Um die Beispielliste den Gegebenheiten der Moderne anzupassen, ist sie unter den Auspizien gesteigerten Tempos bloß noch um das Autofahren oder Tennisspielen zu ergänzen. Vgl. dazu etwa Robert Musil, Durch die Brille des Sports [1925/26 oder später]. In: Ders., Gesammelte Werke, hg. von Adolf Frisé, Bd. II, Reinbek 1978, S. 792–795.
Dazu Norbert Wiener, Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung in Lebewesen und Maschine, Reinbek 1968, v.a. S. 210.
Frederik J. J. Buytenclijk, Wege zum Verständnis der Tiere, Zürich, Leipzig, o. J., S. 193. Zu einer weiteren Tierkampfanalyse vgl. Frederik J. J. Buytendijk, Reaktionszeit und Schlagfertigkeit, Kassel 1932.
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Rieger, S. (2007). Choreographie und Regelung. In: Blamberger, G., Brandstetter, G., Breuer, I., Doering, S., Müller-Salget, K. (eds) Kleist-Jahrbuch 2007. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-00319-5_13
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