Zusammenfassung
Wer sich heute noch mit der sogenannten ›Kantkrise‹ beschäftigt, gerät leicht in den Verdacht, nicht auf der Höhe der Zeit zu sein. Schließlich sind in den letzten hundert Jahren die verschiedensten Texte vorgeschlagen worden, an deren Lektüre sich Kleists Auflösung seiner Verlobung und die Flucht aus der Beamten- und Gelehrtenlaufbahn angeschlossen haben sollen. Zwei volle Bücher und zahlreiche Aufsätze wurden publiziert, ohne daß ein Text zweifelsfrei hätte dingfest gemacht werden können. Schon nach Georg Minde-Pouets trockenem Kommentar von 1905 zu Kleists Formulierung von der »neueren sogenannten Kantischen Philosophie« — »Die Kritik der reinen Vernunft«1 — werden die Vorschläge zurückhaltender. Ernst Cassirer versieht seine These mit einem Fragezeichen,2 nach Kreutzer besagt die »an sich wichtige« Frage nach der Schrift, die die ›Kantkrise‹ auslöste, »doch nicht viel über Kleists geistige Entwicklung«,3 später geht es nur noch um mehr oder weniger plausible Vorschläge4 oder um »denkbare Philosophen«,5 und schließlich wird aus der ›Kantkrise‹ eine »inszenierte Scheinkrise«.6 Dieser Schluß-punkt nach einem Jahrhundert Diskussion ist jedoch zweifelhaft. Die Wissenschaften und die Wahrheitsfrage werden auch im dichterischen Werk Kleists noch zu deutlich verhandelt, als daß sie einfach beiseitegeschoben werden könnten. Man wird vielmehr eher umgekehrt vermuten, daß die Unlösbarkeit der Fragen nach der Wahrheit und dem ›richtigen Leben‹ in Wissenschaft und Philosophie die Wendung zur schriftstellerischen Laufbahn zumindest mit ausgelöst haben.
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Anmerkung
Vgl. Ernst Cassirer, Gesammelte Werke, Hamburg 2003, Bd. 9, S. 398.
Hans Joachim Kreutzer, Die dichterische Entwicklung Heinrichs von Kleist. Untersuchungen zu seinen Briefen und zu Chronologie und Aufbau seiner Werke, Berlin 1968, S. 27.
Vgl. Ulrich Gall, Philosophie bei Heinrich von Kleist. Untersuchungen zu Herkunft und Bestimmung des philosophischen Gehalts seiner Schriften, Bonn 1977, S. 9.
Bernhard Greiner, Kleists Dramen und Erzählungen. Experimente zum ›Fall‹ der Kunst, Tübingen und Basel 2000, S. 1. Vgl. auch Anm. 16.
Jochen Schmidt, Heinrich von Kleist. Die Dramen und Erzählungen in ihrer Epoche, Darmstadt 2003, S. 15. Ähnlich vermutet schon Johannes Hoffmeister, Beitrag zur sogenannten Kantkrise Heinrich von Kleists. In: DVjs 33 (1959), S. 574–587, der Brief vom März 1801 sei nur ein Vorwand gewesen, um sich der Verpflichtung zu entziehen, ein Amt zu übernehmen. wird vielmehr eher umgekehrt vermuten, daß die Unlösbarkeit der Fragen nach der Wahrheit und dem ›richtigen Leben‹ in Wissenschaft und Philosophie die Wendung zur schriftstellerischen Laufbahn zumindest mit ausgelöst haben.
Ludwig Muth, Kleist und Kant. Versuch einer neuen Interpretation, Köln 1954; Gall, Philosophie bei Heinrich von Kleist (wie Anm. 4).
Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz, Von der Glückseligkeit. In: Ders.: Philosophische Schriften, hg. von Hans Heinz Holz, Herbert Herring und Wolf von Engelhardt, Frankfurt a.M. 1986ff., Bd. 1, S. 398: » [...] weilen jedem seine Werke nachfolgen und alles weislich so eingerichtet, daß durch eine natürliche Folge das Böse sich selbst strafet und das Gute zur Vollkommenheit, mithin zur Glückseligkeit dienet.« Ähnlich Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, zu Beförderung ihrer Glückseligkeit, 4. Auflage, Frankfurt a.M. und Leipzig 1733, Reprint Hildesheim 1996, S. 43f., §§ 68–70. — Freilich heißt es auch noch in Fichtes Schrift ›Ueber den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung‹ (1798), an die sich der Atheimusstreit anschloß, »dass jede wahrhaft gute Handlung gelingt, jede böse sicher mislingt, und dass denen, die nur das Gute recht lieben, alle Dinge zum Besten dienen müssen«; Fichte SW V, 188, vgl. auch S. 184.
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Mandelartz, M. (2006). Von der Tugendlehre zur Lasterschule. In: Blamberger, G., Breuer, I., Doering, S., Müller-Salget, K. (eds) Kleist-Jahrbuch 2006. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-00204-4_9
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