Zusammenfassung
Spielt Schiller als Erzähler heutzutage noch eine Rolle? Nach dem Jubiläumsjahr 2005 scheint dies ungewisser denn je. Was die Aufmerksamkeit für die unterschiedlichen Gattungen anbelangt, ist die Forschungslage zu Schiller und seinen Zeitgenossen uneinheitlich: Während im Falle Goethes aufs Ganze gesehen die methodisch und inhaltlich innovativsten und avanciertesten Arbeiten seit etlichen Jahren meist zu seinen Prosatexten verfasst werden, und während auch in der jüngeren Kleist-Forschung die Erzählungen gegenüber den Dramen im Unterschied zu früheren Jahren deutlich höher im Kurs stehen, drohen Schillers Erzählungen allmählich endgültig aus dem Kanon der Moderne herauszufallen. Auch die bekannteste unter ihnen, seine im zweiten Heft der ›Thalia‹ 1786 anonym erschienene »wahre Geschichte« ›Verbrecher aus Infamie‹, 1792 mit kleineren Streichungen und Veränderungen unter dem heute geläufigeren, bedeutungsgleichen Titel ›Der Verbrecher aus verlorener Ehre‹ in die ›Kleineren Prosaischen Schriften von Schiller‹ aufgenommen, scheint nur noch wenige Interpretinnen und Interpreten hinter dem Ofen hervorlocken zu können.2 Wenn Schiller als Prosaautor gewürdigt wird, dann — von seinen ästhetisch-philosophischen Schriften abgesehen — inzwischen sogar eher als Historiker denn als Erzähler. In dem 2003 erschienenen Schiller-Arbeitsbuch von Michael Hofmann etwa erhält zwar Schillers Geschichtsschreibung ein eigenes Kapitel, nicht aber seine erzählende Prosa, die gar nicht behandelt wird.3
Eine erste Fassung dieses Aufsatzes unter dem Titel »›Der Verbrecher aus verlorener Ehre‹. Schillers Beitrag zur Geschichte und Psychologie der Moderne« wurde am 12. Mai 2005 auf der Internationalen wissenschaftlichen Tagung »Friedrich Schiller aus heutiger Sicht« an der Schlesischen Universität Kattowitz (Polen) vorgetragen.
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Anmerkung
Norbert Oellers, Schiller. Elend der Geschichte, Glanz der Kunst, Stuttgart 2004, S. 389f.
Vgl. Hartmut Reinhardt, Rechtsverwirrung und Verdachtspsychologie. Spuren der Schiller-Rezeption bei Heinrich von Kleist. In: KJb 1988/89, S. 198–218;
Johannes Endres, Das »depotenzierte« Subjekt. Zu Geschichte und Funktion des Komischen bei Heinrich von Kleist, Würzburg 1996 (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft; 173), S. 82–195. Einen punktuellen Hinweis auf Schillers Erzählung ›Eine großmüthige Handlung, aus der neusten Geschichte‹ gibt Rolf Selbmann, »Hier endigt die Geschichte«. Erzählstrategie und poetologische Reflexion in Kleists Erzählschlüssen. In: KJb 2005, S. 233–247, hier S. 238.
Vgl. Claudia Liebrand, »Ich bin der Sonnenwirt.« Subjektkonstitution in Schillers ›Der Verbrecher aus verlorener Ehre‹. In: Diskrete Gebote. Geschichten der Macht um 1800. Festschrift für Heinrich Bosse, hg. von Roland Borgards und Johannes Friedrich Lehmann, Würzburg 2002, S. 117–129, hier S. 119.
Vgl. Thomas Nutz, Vergeltung oder Versöhnung? Strafvollzug und Ehre in Schillers ›Verbrecher aus Infamie‹. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 42 (1998), S. 146–164.
Vgl. Helmut Koopmann, Schillers Erzählungen. In: Schiller-Handbuch, hg. von Helmut Koopmann in Zusammenarbeit mit der Deutschen Schillergesellschaft Marbach, Stuttgart 1998, S. 699–710, hier S. 704: »Bei aller relativen Modernität des Erzählens darf man freilich den aufklärerischen Zug dieser Geschichte nicht übersehen [...].« Vgl. ferner Peter-André Alt, Schiller. Leben — Werk — Zeit, Bd. 1, München 2000, S. 513–517.
Vgl. zu diesem Komplex insgesamt: Angelika Jacobs, Goethe und die Renaissance. Studien zum Konnex von historischem Bewußtsein und ästhetischer Identitätskonstruktion, München 1997.
Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Historisch-kritische Ausgabe, bearbeitet von Siegfried Scheibe, hg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Bd. 1: Text, Berlin [DDR] 1970, S. 11.
Vgl. Paul Hankamer, Spiel der Mächte. Ein Kapitel aus Goethes Leben und Goethes Welt, 2. Auflage, Tübingen und Stuttgart 1947, S. 134.
Dies zeigt sich etwa an den Parallelen und Wiederholungen, die in ihrer sich steigernden Abfolge an ein »biblisches Erzählgerüst« erinnern. Achim Aurnhammer, Engagiertes Erzählen. ›Der Verbrecher aus verlorener Ehre‹. In: Schiller und die höfische Welt, hg. von A. Aurnhammer, Klaus Manger und Friedrich Strack, Tübingen 1990, S. 254–270, hier S. 265.
Vgl. Moritz Baßler, Goethe und die Bodysnatcher. Ein Kommentar zum AnatomieKapitel in den ›Wanderjahren‹. In: Von der Natur zur Kunst zurück. Neue Beiträge zur Goethe-Forschung. Gotthart Wunberg zum 65. Geburtstag, hg. von Moritz Baßler, Christoph Brecht und Dirk Niefanger, Tübingen 1997, S. 181–197.
Vgl. Anthony Stephens, »Eine Träne auf den Brief«. Zum Status der Ausdrucksformen in Kleists Erzählungen. In: Ders., Kleist — Sprache und Gewalt. Mit einem Geleitwort von Walter Müller-Seidel, Freiburg i.Br. 1999 (Rombach Wissenschaften; Reihe Litterae; 64), S. 157–193.
Vgl. Bernd Hamacher, Heinrich von Kleist: ›Michael Kohlhaas‹. Erläuterungen und Dokumente, Stuttgart 2003 (Universal-Bibliothek; 16026), S. 24.
Vgl. Gerhard Neumann, Die Anfänge deutscher Novellistik. Schillers ›Verbrecher aus verlorener Ehre‹ — Goethes ›Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‹. In: Unser Commercium. Goethes und Schillers Literaturpolitik, hg. von Wilfried Barner, Eberhard Lämmert und Norbert Oellers, Stuttgart 1984, S. 433–460, hier S. 460.
Günter Blamberger, Agonalität und Theatralität. Kleists Gedankenfigur des Duells im Kontext der europäischen Moralistik. In: KJb 1999, S. 25–40, hier S. 29.
Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, 40 Bde. in 2 Abt., hg. von Friedmar Apel u.a., I. Abt., Bd. 3/1: West-östlicher Divan, Teil 1, hg. von Hendrik Birus, Frankfurt a.M. 1994 (Bibliothek deutscher Klassiker; 113), S. 602. Vgl. Gerhard Neumann, ›Lasst mich weinen ...‹ Die Schrift der Tränen in Goethes ›West-östlichem Divan‹. In: Oxford German Studies 15 (1984), S. 48–76.
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Hamacher, B. (2006). Geschichte und Psychologie der Moderne um 1800 (Schiller, Kleist, Goethe). In: Blamberger, G., Breuer, I., Doering, S., Müller-Salget, K. (eds) Kleist-Jahrbuch 2006. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-00204-4_6
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-00204-4_6
Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart
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Online ISBN: 978-3-476-00204-4
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