Zusammenfassung
»Die Marquise ist schwanger geworden, und weiß nicht wie, und von wem. Ist das ein Süjet, das in einem Journale für die Kunst eine Stelle verdient? Und welche Details erfordert es, die keuschen Ohren durchaus widrig klingen müssen.« (LS, 235a) Karl August Böttigers empörte Frage, die er dem zweiten Stück des ›Phöbus‹ entgegenhielt, lag auch so manchem anderen Leser der ›Marquise von O....‹ am Herzen. Doch so empfindlich und keusch, wie dieses und eine Reihe weiterer zeitgenössischer Urteile glauben machen, waren die Ohren des Bürgertums keineswegs. Böttiger setzt denn auch nicht bei dem delikaten Fall selbst an, sondern bei dem für den ›Phöbus‹ unpassenden Sujet.1 Stiltrennung mißachtet, Genre verfehlt — so könnte man sein Votum zuspitzen.
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Anmerkung
Vgl. Ingo Breuer, »Schauplätze jämmerlicher Mordgeschichte«. Tradition der Novelle und Theatralität der Historia bei Heinrich von Kleist. In: KJb 2001, S. 196–225.
Friedrich Schiller, Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. von Otto Dann u.a., Bd. 11, Frankfurt a.M. 2002, S. 306 (Schiller an Körner, 12. Juni 1788). Im folgenden wird diese Ausgabe mit der Sigle FA zitiert.
Vgl. Alexander Košenina, »Tiefere Blicke in das Menschenherz«: Schiller und Pitaval. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 55 (2005), S. 383–395. Hoffmanns ›Das Fräulein von Scuderi‹ verarbeitet z.B. Pitavals ›Marquise von Brinvillier‹, und ›Die Marquise de la Pivardiere‹ benennt sogar im Untertitel die von Richer erweiterten ›Causes célèbres‹ als Quelle.
Vgl. Alexander Halisch, Barocke Kriminalgeschichtensammlungen. In: Simpliciana 21 (1999), S. 105–124. Einige solche Titel des 17. Jahrhunderts sind: François Rossets ›Histoires tragiques‹ (1605), Martin Zeilers ›Theatrum tragicum‹ (1628), Jean Pierre Camus’ ›Les Spectacles d’horreur‹ (1630), Georg Philipp Harsdörffers ›Grosser Schau-Platz jämmerlicher Mord-Geschichte‹ (1649–52), Johann Mercks ›Trauer-Schau-Bühne‹ (1669), Erasmus Franciscis ›Hoher Trauer-Saal‹ (1669), Jean Nicola de Parivals ›Sinnreiche/ Kurtzweilige und Traurige Geschichte‹ (1671), Johann Samuel Adamis ›Theatrum Tragicum‹ (1695), Milettus Hedrusius’ ›Neu eröffnete Mord- und Trauer-Bühne‹ (1708–16), Johann Christoph Beers ›Neu-eröffneter Trauer-Bühne‹ (1708–31).
Vgl. diesen Fund von Eberhard Siebert, Zur Herkunft der Zeitungsanzeige in Kleists ›Marquise von O...‹. In: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz 28 (1991), S. 323–327.
12 Heinrich von Kleist, Die Marquise von O... Die Dichtung und ihre Quellen, mit einem Begleitwort hg. von Alfred Klaar, Berlin [1922], S. 79–95.
Vgl. Ingo Breuer, Tragische Topographien. Zur deutschen Novellistik des 17. Jahrhunderts im europäischen Kontext (Camus, Harsdörffer, Rosset, Zeiller). In: Topographien. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext, hg. von Hartmut Böhme, Stuttgart und Weimar 2005 (Germanistische Symposien; Berichtsbände; XXVII). S. 291–312.
Vgl. dazu Barbara Potthast, Die verdrängte Krise. Studien zum ›inferioren‹ deutschen Roman zwischen 1750 und 1770, Hamburg 1997, S. 127–130.
Zum einen ist an den Mythos von Thalia zu denken, die von Zeus versteckt wird und die ihm Zwillinge gebiert; zum anderen an Varianten von Giambattista Basiles ›Sole, Luna e Talia‹, in denen die verwunschene Prinzessin durch Kuß oder Beischlaf aus ihrem todesähnlichen Schlaf erlöst wird. Vgl. Harold Neemann, Art. ›Schlafende Schönheit‹. In: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 12, Berlin 2005, Sp. 13–19.
Kleist, Die Marquise von O... (wie Anm. 12), S. 146f. Zur Verbreitung des Motivs vgl. Michaela Fenske, Art. ›Nekrophilie‹. In: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 9, Berlin 1999, Sp. 1345–1351;
Ines Köhler-Zülch, Art. ›Scheintod‹ und ›Scheintote Prinzessin‹. In: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 11, Berlin 2004, Sp. 1324–1335.
Vgl. Gesa Dane, »Zeter und Mordio«. Vergewaltigung in Literatur und Recht, Göttingen 2005, S. 236f. Der zuvor geäußerte Gedanke an eine ebenso enge wie schalkhafte Anknüpfung Kleists an das Unterhaltungsgenre ließe sich auch mit der Deutung des Schlusses als Parodie verbinden.
Vgl. Christine Künzel, Vergewaltigungslektüren. Zur Codierung sexueller Gewalt in Literatur und Recht, Frankfurt a.M. 2003, S. 83–89.
Dieses alte Motiv wird noch im 19. Jahrhundert verschiedentlich variiert. Vgl. Richard M. Meyer, Otto Ludwigs »Maria«. In: Euphorion 7 (1900), S. 104–112.
Vgl. A. Fuckel, Ein älteres Seitenstück zu Kleists »Marquise von O...«. In: Euphorion 23 (1921), S. 295–298.
Christian Heinrich Spieß, Biographien der Selbstmörder, ausgewählt und hg. von Alexander Košenina, Göttingen 2005, S. 78–84. Im folgenden wird der Text nach dieser Ausgabe mit nachgestellter Seitenzahl zitiert.
Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Erich Trunz, München 1982, Bd. 1, S. 85. Vgl. die rechtsgeschichtlich aufschlußreiche Interpretation von Walter Müller-Seidel, Balladen und Justizkritik. Zu einem wenig bekannten Gedicht Goethes. In: Gedichte und Interpretationen, hg. von Karl Richter, Stuttgart 1983, Bd. 2, S. 437–450.
Vgl. Ekkehard Kaufmann, Art. ›Blutschande‹. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtgeschichte, hg. von Adalbert Erler und Ekkehard Kaufmann, Bd. 1, Berlin 1971, Sp. 461–463.
Heinrich Leopold Wagner, Die Kindermörderin. Ein Trauerspiel, hg. von Jörg-Ulrich Fechner, Stuttgart 1969, S. 79f.
1796 literarisiert Meißner den Fall eines Mörders, der sein anfängliches Geständnis revidiert und selbst durch Folter nicht mehr zum Bekenntnis zu bewegen ist. Ein ihm menschlich begegnender Arzt schleicht sich dann allmählich in sein Vertrauen und erwirkt ein erneutes Geständnis, das zwei heimlich im Nebenraum verborgene Zeugen bestätigen. Vgl. dazu Michael Niehaus: Geständnismotivierung um 1800 als Problem. Eine Kriminalgeschichte von August Gottlieb Meißner. In: Philologie im Netz 28 (2004), S. 53–70.
Vgl. Friedrich von Spee, Cautio Criminalis oder Rechtliches Bedenken wegen der Hexenprozesse, aus dem Lateinischen übertragen und eingeleitet von Joachim Friedrich Ritter, München 2000, S. 79f.
Vgl. Cesare Beccaria, Über Verbrechen und Strafenn, nach der Ausgabe von 1766 übersetzt und hg. von Wilhelm Alff, Frankfurt a.M. 1988, S. 92–100.
Vgl. Strafjustiz in alter Zeit, hg. von Ch. Hinckeldey, Rothenburg o.d.T. 1980, S. 129: »Waren die Todesstrafe durch Enthaupten, Erhängen, Ertränken und Verbrennen im 16. und 17. Jahrhundert allgemein gebräuchlich, zeigten die Urteile des 17. Jahrhunderts aber auch schon eine weitgehende Milderung an. Prangerstehen, Staupenschlag und Landesverweisung oder längere Freiheitsstrafen wurden dann üblich.« Vgl. zu diesen Strafen Richard van Dülmen, Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der frühen Neuzeit, München 1985, S. 62–80.
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Košenina, A. (2006). Ratlose Schwestern der Marquise von O.... In: Blamberger, G., Breuer, I., Doering, S., Müller-Salget, K. (eds) Kleist-Jahrbuch 2006. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-00204-4_5
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