Zusammenfassung
»Geschichte«, so urteilt Novalis apodiktisch in einer fragmentarischen Notiz aus dem Jahre 1798, »ist eine große Anekdote.«2 Es ist für einen Heutigen nicht einfach, die provokative Spitze herauszuhören, die in dieser scheinbar nachlässig hingeworfenen Formulierung enthalten ist. Mit ihr bemüht sich Novalis, einen im Laufe des 18. Jahrhunderts vollzogenen Wandel in der Auffassung des Begriffs ›Geschichte‹ auf den Punkt zu bringen — nämlich die Entdeckung der Geschichte als eines einmaligen Prozesses, dem ein immanenter Sinn abgewonnen werden muß; die Singularisierung der Geschichten zur Geschichte.3 Indem Novalis der Geschichte einen anekdotischen Charakter zuerkennt, unterstellt er ihr eine sinnfällige Prägnanz. Zugleich attestiert er ihr als ganzer die gewöhnlich mit dem anekdotischen Ereignis assoziierten Attribute des Außergewöhnlichen und Unwahrscheinlichen. Das eigentlich provozierende Moment liegt aber schließlich darin begründet, daß er den neuen Begriff der Geschichte mit einer Kategorie identifiziert, die innerhalb der älteren Geschichtsauffassung noch den marginalen Saum der Historie bezeichnet. Das Odium des Beiläufigen und Nebensächlichen haftet der Anekdote von jeher an. Diese Marginalität ist ein Epiphänomen jener exemplarischen und monumentalen Größe, die über Jahrhunderte hinweg einem Ereignis oder eine Person allererst das Recht auf Eintritt in den Raum der Historie verschafft hat. Nur insofern sie sich vom Glanz der großen Persönlichkeit oder der bedeutenden Begebenheit lieh, hat die Anekdote im Kielwasser monumentaler Historie ihren Platz behaupten können.4
Der vorliegende Text ist die für den Druck überarbeitete und erweiterte Fassung eines Vortrags, den ich im Rahmen des von Jürgen Fohrmann veranstalteten Workshops »›In Staub mit allen Feinden Brandenburgs‹. Die Souveränität und Kleists ›Prinz Friedrich von Homburg‹« im Juni 2005 an der Universität Bonn gehalten habe. Ich danke den Teilnehmern des Workshops für wertvolle Anregungen und Kritik.
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Anmerkung
Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, hg. von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel, Bd. 2: Das philosophisch-theoretische Werk, München und Wien 1978, S. 356.
Stephen Greenblatt, Marvellous Possessions. The Wonder of the New World, Chicago 1991, S. 2.
Joel Fineman, The History of the Anecdote: Fiction and Fiction. In: The New Histori-cism, hg. von H. Aram Veeser, New York und London 1989, S. 49–76, hier S. 61.
Vgl. Stephen Greenblatt, Shakespearian Negotations. The Circulation of Social Energy in Renaissance England, Berkeley und Los Angeles 1988, S. 94–128.
Zum Begriff des Supplements vgl. Jacques Derrida: Grammatologie. Aus dem Französischen von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler, Frankfurt a.M. 1982, S. 244–282.
Plutarch, Große Griechen und Römer, eingeleitet und übersetzt von Konrat Ziegler, Bd. 5, Zürich und Stuttgart 1960, S. 7.
Johann Gottfried Herder, Erläuterungen mit und ohne Anekdoten. In: Ders.: Werke in zehn Bänden, Bd. 10: Adrastea, hg. von Günter Arnold, Frankfurt a.M. 2000, S. 96f, hier S. 96.
Voltaire, Le siècle de Louis XIV In: Ders.: , hg. von René Pomeau, Paris 1957, S. 889. — Eine ähnlich gelagerte Kritik an der Anekdote artikuliert Voltaire in seiner Einleitung zur ›Histoire de Charles XII‹, ebd., S. 53–56.
Voltaire: Essai sur les mœurs et l’esprit des nations et sur les principaux faits de l’histoire depuis Charlemagne jusqu’à Louis XIII, hg. von René Pomeau, Bd. 1, Paris 1963, S. 203.
Jean-Jacques Rousseau, Discours sur l’origine et les fondemens de l’inégalité parmi les hommes. In: Ders.: Œuvres complètes, hg. von Bernard Gagnebin et Marcel Raymond, Bd. 3, Paris 1964, S. 132.
Weber, Die Anekdote (wie Anm. 4), S 49f.; Georg Jäger, Empfindsamkeit und Roman. Wortgeschichte, Theorie und Kritik im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Stuttgart, Berlin, Köln und Mainz 1959, S. 115f.
Johann Jakob Engel, Über Handlung, Gespräch und Erzählung, Faksimiledruck der ersten Fassung von 1774, hg. von Ernst Theodor Voß, Stuttgart 1964, S. 187.
Christian Garve, Ueber Gesellschaft und Einsamkeit. In: Ders.: Gesammelte Werke, hg. von Kurt Wölfel, 1. Abt., Bd. 2, Hildesheim, Zürich und New York 1985, S. 25.
Claude Adrien Helvétius, De l’esprit. In: Ders.: Œuvres complètes. Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Paris 1795, Hildesheim 1967, Bd. 3, S. 168.
Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. In: Ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. III.1: Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen, Berlin und New York 1972, S. 257f.
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 5., revidierte Auflage, besorgt von Johannes Winckelmann, Tübingen 1976, S. 122–176.
Vgl. Wolf Kittler, Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie. Heinrich von Kleist und die Strategie der Befreiungskriege, Freiburg i.Br. 1987, S. 262.
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Moser, C. (2006). Die Supplementäre Wahrheit Des Anekdotischen. In: Blamberger, G., Breuer, I., Doering, S., Müller-Salget, K. (eds) Kleist-Jahrbuch 2006. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-00204-4_4
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