Zusammenfassung
Der »Zufall«, auf den sich im titelgebenden Zitat die Hoffnung der Protagonisten Hermann und Eginhardt richtet, ist ein »Zufall« der Inszenierung; er wird in Kleists Drama ›Die Hermannsschlacht‹ an einer Stelle aufgerufen,1 die für den weiteren Verlauf von entscheidender Bedeutung ist. Der »Zufall« nämlich generiert die passenden Rahmenbedingungen jener Fallgeschichte, die am Ende des Dramas die Konstituierung »Von der Germania heilgem Grund« (Vs. 2629) selbst vorführt.2 Das wäre an sich wenig bemerkenswert, weil die funktionale Bestimmung des »Zufall[s]« seit jeher Poetik und Narratologie immanent ist, um die jeweils beschriebenen oder erzählten Dinge mit der Bezeugung oder Erzeugung von Sinn zu koppeln;3 es wird aber dort interessant, wo das Ziel des Dramas darin liegt, die Rezeption seiner Effekte mit der Wirklichkeit kurzzuschließen, wo also Aufführungspraxis und Wirklichkeitswahrnehmung ineins fallen sollen. Der Konfiguration des Dramas ist es dann aufgegeben, die Konfiguration der Wirklichkeit nicht nur abzubilden, sondern vielmehr noch sie hervorzubringen; die Exemplarizität des Dramas erschließt den Raum der Gegenwart, indem es eine Perspektive auf denselben eröffnet, die die Beherrschbarkeit von Geschichte suggeriert: Der Text wird zum Formationsraum einer Sicht auf die Gegenwart, deren Überwindung er verspricht. Er übernimmt dadurch semantisch jene Aufladung, die im Übergang vom Exemplum zur Fallgeschichte als Kontinuum einer Heilserwartung kenntlich wird.4
»Da muss sich eben erst der Himmel näher an die Erde bringen.« J. G. Fichte, ›Alte und neue Welt‹
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Anmerkung
Zur kulturellen Produktivität des Verhältnisses von »Zufall« und »Notwendigkeit« vgl. Erich Köhler, Der literarische Zufall, das Mögliche und die Notwendigkeit, Frankfurt a.M. 1993; Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1979, S. 158–175; Die Künste des Zufalls, hg. von Peter Gendolla und Thomas Kamphusmann, Frankfurt a.M. 1999.
Zur strukturellen Kopplung von Heilserwartung und Narratologie vgl. Historische Sinnbildung. Problemstellungen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien, hg. von Klaus E. Müller und Jörn Rüsen, Reinbek 1997.
Friedrich Schiller, Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? In: Ders., Sämtliche Werke, Bd. V: Erzählungen. Theoretische Schriften, hg. von Wolfgang Riedel, München 2004, S. 818–831, hier S. 828, 830.
Allgemein dazu: Ralf Konersmann, Welttheater als Daseinsmetapher. In: Ders., Der Schleier des Timanthes. Perspektiven der historischen Semantik, Frankfurt a.M. 1994, S. 84–168.
Dazu die grundlegenden Überlegungen von Dieter Mersch: Das Ereignis der Setzung. In: Performativität und Ereignis, hg. von Christian Horn u.a., Tübingen und Basel 2003, S. 41–56.
Jan Assmann, Herrschaft und Heil. Politische Theologie in Altägypten, Israel und Europa, Frankfurt a.M. 2000.
Johann Gottlieb Fichte, Versuch einer Kritik aller Offenbarung [1792]. In: Fichtes Werke, hg. von Immanuel Hermann Fichte, Bd. V: Zur Religionsphilosophie, Berlin 1971, S. 10–174, hier S. 110f. (Hervorh. M.N.). Zur kulturwissenschaftlichen Perspektivierung der Kategorie ›Aufmerksamkeit‹ vgl. Aufmerksamkeiten, hg. von Aleida Asssmann, München 2001 (Archäologie der literarischen Kommunikation).
Vgl. zum Zusammenhang von »Kultus und Opfer« Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil: Das mythische Denken, Darmstadt 1987, S. 262–277, besonders S. 270f.
Friedrich Nietzsche, Unzeitgemässe Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben (1874). In: Ders., Kritische Studienausgabe, Bd. I, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1980, S. 259–262.
Adam Müller, Ueber Machiavell. In: Adam Müllers vermischte Schriften über Staat, Philosophie und die Kunst. Erster Theil, Wien 1812, S. 43–55, hier S. 53f. Vgl. zu Müller Ethel Matala de Mazza, Der verfaßte Körper. Zum Projekt einer organischen Gemeinschaft in der politischen Romantik, Freiburg i.Br. 1999, S. 265–339.
Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten. In: Ders., Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1, Frankfurt a.M. 1996 (Werkausgabe, Bd. XI, hg. von Wilhelm Weischedel), S. 265–393, hier S. 351–368.
Carl Schmitt, Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf (1921), Berlin 1978, S. 201f. Vgl. zu den »Konsequenzen im 20. Jahrhundert« auch Kittler, Die Geburt des Partisanen (wie Anm. 10), S. 325–404. Von einer »spontane[n] Empörung von Hermanns Germanen« zu sprechen (S. 345), geht freilich ganz und gar fehl.
Carl Schmitt, Die staatsrechtliche Bedeutung der Notverordnung, insbesondere ihre Rechtsgültigkeit (1931). In: Ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924–1954. Materialien zu einer Verfassungslehre, Berlin 1958, S. 261.
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Neumann, M. (2006). »Und Sehn, Ob Uns der Zufall Etwas Beut«. In: Blamberger, G., Breuer, I., Doering, S., Müller-Salget, K. (eds) Kleist-Jahrbuch 2006. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-00204-4_10
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