Zusammenfassung
Ein großes Thema in Kleists Briefen an die Verlobte in den Monaten nach der Würzburger Reise ist das »[L]ernen von der Natur« (DKV IV, 159). Kleist preist Wilhelmine dafür, daß sie ganz in seinem Sinne aufgefaßt habe und nun selbst praktiziere, »bei der großen Lehrmeisterin Natur in die Schule zu gehen« (DKV IV, 172).1 Das wird ausgespielt gegen »die Bücher« (vgl. DKV IV, 159), womit die wissenschaftlichen Bücher gemeint sind, von denen Kleist, wie vom Ideal der Bildung durch Wissenschaft generell, abzurücken beginnt. Aber hat die Lehrerin Natur überhaupt die Chance, ihrem Schüler etwas zu eröffnen, was dieser nicht schon weiß? Wichtig ist Kleist, daß man moralischen Ertrag (»moralische Revenüen«; DKV IV, 162) aus dem Blick auf die Natur ziehe. Das setzt ein Denken voraus, dem die Gesetze der physischen und der moralischen Welt gleich, zumindest analog sind.2 Erst wenn beide zugleich im Blick seien, so Kleist, könne man »wahrnehmen«, »das heißt, mit der Seele den Eindruck der Sinne auffassen u[nd] denken« (DKV IV, 172). Als Beispiel für solches ›Wahrnehmen‹ hatte Kleist seinen Gedanken beim Passieren des Würzburger Stadttors angeführt. Der Text ist bekannt, er sei nochmals in Erinnerung gerufen, weil nicht nur das zentrale Bild, sondern auch die einzelnen Schritte der Argumentation Aufmerksamkeit verdienen.
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Anmerkungen
Wenn Kleist sich mit diesem Paradox beschäftigt, steht er durchaus in einer Tradition; Albrecht von Haller z.B. erklärt in seinem »Unvollkommenen Gedicht über die Ewigkeit« das menschliche Erlernen des Gehens als Antwort auf die Erfahrung des Fallens: »Die Füße lernten gehn durch fallen«. Albrecht von Haller, Die Alpen und andere Gedichte, Auswahl und Nachwort von Adalbert Eschenbroich, Stuttgart 1998, S. 78, Vs. 108; diesen Hinweis verdanke ich Roland Borgards.
Kleists Aneignung zeitgenössischer Naturlehren erläutert detailliert: Roland Borgards, ›Allerneuester Erziehungsplan‹. Ein Beitrag Heinrich von Kleists zur Experimentalkultur um 1800 (Literatur, Physik). In: Literarische Experimentalkulturen. Poetologien des Experiments im 19. Jahrhundert, hg. von Marcus Krause und Nicolas Pethes, Würzburg 2005, S. 75–101.
Immanuel Kant, Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebäudes nach Newtonischen Grundsätzen abgehandelt. In: Ders., Werke in 10 Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 1, Darmstadt 1983, S. 228.
Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797). In: Ders., Historisch-Kritische Ausgabe, Reihe I, Bd. 5, hg. von Manfred Durner, Stuttgart 1994.
Bernhard Greiner, Kleists Dramen und Erzählungen. Experimente zum ›Fall‹ der Kunst, Tübingen 2000.
Hierzu ausführlicher Bernhard Greiner, »Ob ihr mir Wahrheit gabt? O scharfgeprägte«: Das Wahrheitsspiel im ›Zerbrochnen Krug‹ und dessen Vorgaben in den Ringparabeln Lessings und Boccaccios. In: Ironische Prophetien. Sprachbewußtsein und Humanität in der Literatur von Herder bis Heine, hg. von Markus Heilmann, Birgit Wägenbaur, Tübingen 2001, S. 51–73.
Hierzu Christian-Paul Berger, Bewegungsbilder. Kleists Marionettentheater zwischen Poesie und Physik, München, Wien und Zürich 2000.
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Greiner, B. (2005). Sturz als Halt. In: Blamberger, G., Breuer, I., Doering, S., Müller-Salget, K. (eds) Kleist-Jahrbuch 2005. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-00148-1_6
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