Zusammenfassung
In dem bekannten Brief an seinen Lehrer Christian Ernst Martini im März 1799 will Kleist, wie er gleich zu Anfang betont, möglichst vollständig seine »Denk- und Empfindungsweise« darstellen (SW9 II, 472).1 Er erinnert zunächst an eine Streitfrage, die beide, Lehrer und Schüler, aus Zeitgründen unentschieden lassen mußten und die offenbar folgendermaßen lautete: »ob ein Fall möglich sei, in welchem ein denkender Mensch der Überzeugung eines andern mehr trauen soll, als seiner eigenen?« (SW9 I, 472). Kleist schließt mit Entschiedenheit »alle Fälle aus, in welchen ein blinder Glaube sich der Autorität eines andern unterwirft«. Ein denkender Mensch, so fordert er, wird jede andere Überzeugung und Meinung »streng und wiederholt prüfe[n] und sich hüte[n], zu früh zu glauben, daß er sie aus allen Gesichtspunkten betrachtet und beleuchtet habe«. Seine Folgerung spitzt er dergestalt zu: »Aber gegen seine Überzeugung glauben, heißt glauben, was man nicht glaubt, ist unmöglich«. Nicht ohne Selbstbewußtsein zieht er aus diesen Einsichten den Schluß, daß man »eigentlich niemand um Rat fragen« müsse »als sich selbst, als die Vernunft«; denn niemand könne »besser wissen, was zu [seinem] Glücke dient, als [er] selbst« (SW9 II, 472). Obwohl Kleist offensichtlich auf seinen Entschluß anspielt, vom Militär seinen Abschied zu nehmen und sich ganz der Wissenschaft zu widmen, unterfüttert er dieses Vorhaben nicht ungeschickt mit einer philosophischen Maxime der Aufklärung, wie sie Kant in dem weniger bekannten Aufsatz ›Was heißt: sich im Denken orientieren?‹, ebenfalls in der ›Berlinischen Monatschrift‹, allerdings zwei Jahre nach dem berühmten Beitrag ›Was ist Aufklärung?‹ publiziert, in einer Anmerkung auf folgenden Punkt gebracht hat: »Selbstdenken heißt den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst [d.i. in seiner eigenen Vernunft] suchen; und die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die Aufklärung«.2
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Anmerkungen
Gotthilf Heinrich Schubert, Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft, Nachdruck der Ausgabe von 1808, Karben 1997, S. 11, 18.
Ernst Kayka, Kleist und die Romantik, Berlin 1906, S. 38.
Walter Hinderer, Immanuel Kants Begriff der negativen Größen, Adam Müllers Lehre vom Gegensatz und Heinrich Kleist Ästhetik der Negation. In: Gewagte Experimente und kühne Konstellationen, hg. von Christine Lubkoll und Günter Oesterle, Würzburg 2001, S. 35–62.
Johann Wolfgang Goethe, Briefwechsel mit Friedrich Schiller, Zürich 21964, S. 20.
Ludwig Muth, Kleist und Kant. Versuch einer neuen Interpretation, Köln 1954, S. 60.
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Schriften 1799–1801, Darmstadt 1975, S. 272.
Zitiert bei Herminio Schmidt, Heinrich von Kleist. Naturwissenschaft als Dichtungsprinzip, Bern und Stuttgart 1978, S. 66.
LS 271 (Nach Tiecks Erzählung: Aufzeichnung Rudolf Köpkes). Vgl. auch Ulrich Gall, Philosophie bei Heinrich von Kleist, Bonn 1977, S. 166.
Hugo Zartmann, Heinrich von Kleist und Kant. In: Euphorion 14 (1907), S. 790f.
Jakob Friedrich Abel, Theses philosophicae (1780). In: Ders., Eine Quellenedition von Philosophieunterricht an der Stuttgarter Karlsschule (1773–1782), hg. von Wolfgang Riedel, Würzburg 1995, S. 495.
Vgl. Odo Marquard, Transzendentaler Idealismus. Romantische Naturphilosophie. Psychoanalyse, Köln 1987, S. 158.
Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Schriften von 1794–1798, Darmstadt 1975, S. 380; ebenso Schelling, Schriften von 1799–1801 (wie Anm. 36), S. 640f.
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Hinderer, W. (2005). Ansichten von der Rückseite der Naturwissenschaft. In: Blamberger, G., Breuer, I., Doering, S., Müller-Salget, K. (eds) Kleist-Jahrbuch 2005. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-00148-1_4
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Online ISBN: 978-3-476-00148-1
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