Skip to main content

Ansichten von der Rückseite der Naturwissenschaft

Antinomien in Heinrich von Kleists Welt- und Selbstverständnis

  • Chapter
Book cover Kleist-Jahrbuch 2005
  • 170 Accesses

Zusammenfassung

In dem bekannten Brief an seinen Lehrer Christian Ernst Martini im März 1799 will Kleist, wie er gleich zu Anfang betont, möglichst vollständig seine »Denk- und Empfindungsweise« darstellen (SW9 II, 472).1 Er erinnert zunächst an eine Streitfrage, die beide, Lehrer und Schüler, aus Zeitgründen unentschieden lassen mußten und die offenbar folgendermaßen lautete: »ob ein Fall möglich sei, in welchem ein denkender Mensch der Überzeugung eines andern mehr trauen soll, als seiner eigenen?« (SW9 I, 472). Kleist schließt mit Entschiedenheit »alle Fälle aus, in welchen ein blinder Glaube sich der Autorität eines andern unterwirft«. Ein denkender Mensch, so fordert er, wird jede andere Überzeugung und Meinung »streng und wiederholt prüfe[n] und sich hüte[n], zu früh zu glauben, daß er sie aus allen Gesichtspunkten betrachtet und beleuchtet habe«. Seine Folgerung spitzt er dergestalt zu: »Aber gegen seine Überzeugung glauben, heißt glauben, was man nicht glaubt, ist unmöglich«. Nicht ohne Selbstbewußtsein zieht er aus diesen Einsichten den Schluß, daß man »eigentlich niemand um Rat fragen« müsse »als sich selbst, als die Vernunft«; denn niemand könne »besser wissen, was zu [seinem] Glücke dient, als [er] selbst« (SW9 II, 472). Obwohl Kleist offensichtlich auf seinen Entschluß anspielt, vom Militär seinen Abschied zu nehmen und sich ganz der Wissenschaft zu widmen, unterfüttert er dieses Vorhaben nicht ungeschickt mit einer philosophischen Maxime der Aufklärung, wie sie Kant in dem weniger bekannten Aufsatz ›Was heißt: sich im Denken orientieren?‹, ebenfalls in der ›Berlinischen Monatschrift‹, allerdings zwei Jahre nach dem berühmten Beitrag ›Was ist Aufklärung?‹ publiziert, in einer Anmerkung auf folgenden Punkt gebracht hat: »Selbstdenken heißt den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst [d.i. in seiner eigenen Vernunft] suchen; und die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die Aufklärung«.2

This is a preview of subscription content, log in via an institution to check access.

Access this chapter

Chapter
USD 29.95
Price excludes VAT (USA)
  • Available as PDF
  • Read on any device
  • Instant download
  • Own it forever
eBook
USD 39.99
Price excludes VAT (USA)
  • Available as PDF
  • Read on any device
  • Instant download
  • Own it forever
Softcover Book
USD 49.99
Price excludes VAT (USA)
  • Compact, lightweight edition
  • Dispatched in 3 to 5 business days
  • Free shipping worldwide - see info

Tax calculation will be finalised at checkout

Purchases are for personal use only

Institutional subscriptions

Preview

Unable to display preview. Download preview PDF.

Unable to display preview. Download preview PDF.

Anmerkungen

  1. Gotthilf Heinrich Schubert, Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft, Nachdruck der Ausgabe von 1808, Karben 1997, S. 11, 18.

    Google Scholar 

  2. Ernst Kayka, Kleist und die Romantik, Berlin 1906, S. 38.

    Google Scholar 

  3. Walter Hinderer, Immanuel Kants Begriff der negativen Größen, Adam Müllers Lehre vom Gegensatz und Heinrich Kleist Ästhetik der Negation. In: Gewagte Experimente und kühne Konstellationen, hg. von Christine Lubkoll und Günter Oesterle, Würzburg 2001, S. 35–62.

    Google Scholar 

  4. Johann Wolfgang Goethe, Briefwechsel mit Friedrich Schiller, Zürich 21964, S. 20.

    Google Scholar 

  5. Ludwig Muth, Kleist und Kant. Versuch einer neuen Interpretation, Köln 1954, S. 60.

    Google Scholar 

  6. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Schriften 1799–1801, Darmstadt 1975, S. 272.

    Google Scholar 

  7. Zitiert bei Herminio Schmidt, Heinrich von Kleist. Naturwissenschaft als Dichtungsprinzip, Bern und Stuttgart 1978, S. 66.

    Google Scholar 

  8. LS 271 (Nach Tiecks Erzählung: Aufzeichnung Rudolf Köpkes). Vgl. auch Ulrich Gall, Philosophie bei Heinrich von Kleist, Bonn 1977, S. 166.

    Google Scholar 

  9. Hugo Zartmann, Heinrich von Kleist und Kant. In: Euphorion 14 (1907), S. 790f.

    Google Scholar 

  10. Jakob Friedrich Abel, Theses philosophicae (1780). In: Ders., Eine Quellenedition von Philosophieunterricht an der Stuttgarter Karlsschule (1773–1782), hg. von Wolfgang Riedel, Würzburg 1995, S. 495.

    Google Scholar 

  11. Vgl. Odo Marquard, Transzendentaler Idealismus. Romantische Naturphilosophie. Psychoanalyse, Köln 1987, S. 158.

    Google Scholar 

  12. Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Schriften von 1794–1798, Darmstadt 1975, S. 380; ebenso Schelling, Schriften von 1799–1801 (wie Anm. 36), S. 640f.

    Google Scholar 

Download references

Authors

Editor information

Editors and Affiliations

Rights and permissions

Reprints and permissions

Copyright information

© 2005 Springer-Verlag GmbH Deutschland

About this chapter

Cite this chapter

Hinderer, W. (2005). Ansichten von der Rückseite der Naturwissenschaft. In: Blamberger, G., Breuer, I., Doering, S., Müller-Salget, K. (eds) Kleist-Jahrbuch 2005. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-00148-1_4

Download citation

  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-00148-1_4

  • Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart

  • Print ISBN: 978-3-476-02111-3

  • Online ISBN: 978-3-476-00148-1

  • eBook Packages: J.B. Metzler Humanities (German Language)

Publish with us

Policies and ethics