Zusammenfassung
Die europäische Utopie ist eine Form des Wahnwitzes. Utopisten und Revolutionäre zogen aus, die Natur zu bezwingen. Die europäische Utopie ist eine Form des Starrsinns. Der Starrsinn der Geraden gegen die krumme Linie, des Willens zur Inkontingenz. Inkontingenz aber bedeutete in ihren letzten Konsequenzen, nicht nur die Natur zu überlisten, sondern auch Gott. Nicht nur der Revolutionär und der Utopist sind von solchem Starrsinn besessen, sondern auch der Mann der Orthodoxie. Jeder Utopist wird nach der gelungenen Revolution zu einem Erzkonservativen, zum Orthodoxen. Die Orthodoxie ist Utopie und die Utopie ist Orthodoxie. Der Prototyp der orthodoxen Existenz ist der Heilige Ignatius von Loyola, der Begründer des Jesuitenordens. In derselben Zeit, als Thomas Morus seinem Starrsinn gegenüber Heinrich VIII. unter dem Beil des Henkers erlag, spielte Ignatius ein ganz anderes Spiel, das die Utopisten bis auf einen nicht einmal zu träumen wagten. Dieser eine war Thomas Müntzer. Ignatius experimentierte nicht wie Francis Bacon mit der Natur, sondern direkt mit Gott. Sein Leben ist konsequenter als das Calvins, Robespierres, Lenins. Ignatius lebt die wahre utopische Existenz bis zum Wahnwitz. Die Gerade, die er einschlägt auf ein Ziel hin, ohne Rücksicht auf sich und andere, ist nur noch mit der Ausfahrt des Kolumbus vergleichbar. Vielleicht hängt es mit dieser exemplarischen utopischen Existenz zusammen, daß sich die Utopisten des 18. Jahrhunderts so fest in den Jesuiten verbissen, vielleicht ist sein Beispiel auch der Grund dafür, daß die Jesuiten eines der erfolgreichsten utopischen Experimente der Weltgeschichte ausführten und fast zweihundert Jahre aufrechterhielten.
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Winter, M. (1993). Spiel mit Gott. In: Ende eines Traums. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-00006-4_3
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-00006-4_3
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