Zusammenfassung
Der Zusammenhang zwischen Sozialpolitik und demographischer Entwicklung läßt sich weder durch das Denkmodell einseitig kausaler Abhängigkeit noch durch dasjenige einer Wechselwirkung angemessen beschreiben. Beide Denkmodelle gehen von Wirkungszusammenhängen aus, die sich in einer kurzen, für den Forscher wie den politisch Handelnden überschaubaren Zeit entfalten. Hier sei nicht bestritten, daß Wirkungszusammenhänge zwischen einzelnen sozialpolitischen Maßnahmen und bestimmten Aspekten der Bevölkerungsentwicklung — beispielsweise der Reduktion bestimmter Todesursachen, dem Entstehen oder Versiegen bestimmter Wanderungsströme oder auch von Veränderungen der Geburtenhäufigkeit bestimmter weiblicher Teilpopulationen — bestehen. Der Nachweis derartiger Kurzfristeffekte ist Aufgabe der Wirkungsanalyse demographisch relevanter politischer Maßnahmen, insbesondere mit Hilfe von Methoden der Evaluations und Wirkungsforschung, deren Möglichkeiten und Probleme hier nicht erörtert werden können.l.
Entstanden als Referat anläßlich der Internationalen Konferenz 1986 der Deutschen Gesellschaft für Bevölkerungswissenschaft in Zusammenarbeit mit der European Association for Population Studies in Bielefeld. Veröffentlicht in: Demographische Wirkungen politischen Handelns — Demographic Impact of Political Action., hrsg. von Herwig Birg und Rainer Mackensen. Campus Verlage, Frankfurt/New York 1990, S. 103–124.
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Preview
Unable to display preview. Download preview PDF.
Literatur
Vgl. hierzu Kaufmann/Herlth/Strohmeier 1980; Kaufmann/Strohmeier 1981; sowie zur Gesamtproblematik umfassender Kaufmann/Strohmeier/Federkeil 1992.
Neuere Ergebnisse der Implementationsforschung zeigen, daß viele Gesetze nachweisliche Wirkungen erst in einem Zeitraum von 10 bis 20 Jahren nach ihrer Verabschiedung zeitigen. Da die meisten älteren Implementationsstudien sich auf kürzere Wirkungszeiträume konzentriert haben, führte dies zu einer systematischen Unterschätzung der Wirksamkeit von Gesetzen (Sabatier 1986).
Beide Trends setzen typischerweise nicht zur gleichen Zeit ein, woraus die charakteristischen Phänomene des sogenannten demographischen Übergangs resultieren. Die Theorie des demographischen Übergangs geht allerdings davon aus, daß beide Entwicklungen — der Sterblichkeitsrückgang und der Geburtenrückgang — zu einem absehbaren Ende kommen und zwar auf einem Niveau, das in etwa wieder eine langfristig stationäre Bevölkerungsentwicklung erwarten läßt. Die Hoffnung auf ein neues „demographisches Gleichgewicht“ scheint allerdings eher einem intellektuellen Harmoniebedürfnis als den Indikatoren der realen Entwicklung zu entspringen. Nimmt man nämlich nicht die rohen Geburtenziffern oder die Momentanwerte der Fertilitätsraten, sondern die mittlere Geburtenzahl pro Frau oder pro Ehe, also ein reales Längsschnittmaß zum Ausgangspunkt der Betrachtung, so erscheint die Nachwuchsbeschränkung in Europa als ein einigermaßen kontinuierlicher Trend; vgl. für Deutschland Linde 1984; sowie Birg, H. u.a., 1984. Schwankungen der Geburtenhäufigkeit sind ganz überwiegend die Folge massenhafter zeitlicher Verschiebungen der Realisierung von Kinderwünschen im Rahmen weiblicher Biographien.
J.C. Caldwells „Theorie of Fertility Decline“ (1982) reicht nach eigenem Bekunden (vgl. S. 217 ff.) nicht aus, um den spezifischen Verlauf des Fertilitätsrückgangs in Europa zu erklären.
Eine analoge Wirkung politisch induzierter institutioneller Veränderungen wird für Frankreich behauptet: Die Abschaffung des Anerbenrechts im Code Napoleon schuf nachhaltige Anreize zur Geburtenbeschränkung in den besitzenden Schichten, welche die Pioniere der Geburtenbeschränkung in Frankreich wurden.
Während bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts der Sterblichkeitsrückgang vorwiegend die jüngeren Lebensalter betraf und demzufolge eine tendenziell verjüngende Wirkung auf die Bevölkerungsstruktur ausübte, haben medizinische Fortschritte in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts und vor allem in jüngster Zeit die Alterssterblichkeit stark gesenkt. Da die Sterblichkeit in den jüngeren Lebensaltern schon sehr niedrig ist, wirken sich weitere Fortschritte dort statistisch kaum mehr aus, sodaß heute der Sterblichkeitsrückgang per Saldo zur Alterung der Bevölkerung beiträgt; vgl hierzu bereits Kaufmann 1960: 38ff.
Zum Begriff des Humanvermögens vgl. Krüsselberg 1977; sowie Bundesministerium für Familie und Senioren 1994: 26ff. und 243 ff.
Damit hängt auch zusammen, daß die nach dem Umlageverfahren organisierte soziale Alterssicherung im Regelfall per Saldo höhere Leistungen zu erbringen vermag als eine nach dem Anwartschaftsdeckungsverfahren arbeitende Privat- oder Sozialversicherung (Aaron 1966).
Aus dieser Tendenz ergeben sich nicht nur die im folgenden zu erörternden Finanzierungsprobleme der sozialen Sicherung, sondern auch charakteristische Defizite hinsichtlich der Produktion bestimmter Dienstleistungen; vgl. hierzu Hegner 1985.
Inwieweit sich die Probleme im Falle eines Anwartschaftsdeckungsverfahrens anders stellen würden, ist umstritten: Grundsätzlich gilt, daß aller Sozialaufwand aus dem Sozialprodukt der laufenden Periode bestritten werden muß (G. Mackenroth). Deshalb würde die Erhöhung des Altersquotienten der Bevölkerung unter den Bedingungen des Anwartschaftsdeckungsverfahrens volkswirtschaftliche Entsparprozesse und damit — ceteris paribus — inflationäre Effekte auslösen. Das Argument gilt jedoch nur in einer geschlossenen Volkswirtschaft. Zu mindest für die nunmehr absehbare Übergangszeit könnte es durchaus sinnvoll sein, den gegenwärtig erwerbstätigen Personen höhere Beiträge abzuverlangen, als dies durch das Umlageverfahren erforderlich ist, um bei den Sozialversicherungsträgern Rücklagen für die Phase höchster Beanspruchung (in der Bundesrepublik zwischen 2020 und 2040) zu bilden. — Einen guten Überblick über die versicherungstechnischen und ‚versicherungsphilosophischen‘ Probleme des intergenerationellen Zusammenhangs gibt Dinkel 1985; für eine Verteidigung des herrschenden Systems vgl. Schmähl 1985.
Diese Voraussetzung ist in der Bundesrepublik nur tendenziell erfüllt, da Beamte und i.d.R. auch Besserverdiende nicht Mitglied in der Gesetzlichen Rentenversicherung sind und demzufolge als Beitragszahler ausfallen. Da jedoch der ganz überwiegende Teil der Bevölkerung erfaßt wird, trägt die Argumentation weitgehend auch für Deutschland.
Leisering (1984) ist sogar der Ansicht, daß die Kostensteigerungen im Gesundheitswesen systemimmanent schwerer begrenzt werden können als in Alterssicherungssystemen.
Das ist eine ungenaue, aber der Sache nach treffende Formulierung. Bezogen auf den bisherigen stabilen Zustand lebt jede Generation, die ihre Geburten gegenüber vorangehenden beschränkt, ‚über ihre Verhältnisse; das ist jedoch mit Bezug auf den neuen, durch das reduzierte Fruchtbarkeits -und Sterblichkeitsniveau definierten stabilen Zustand solange ohne langfristige Nachteile, als der neue stabile Zustand zu einem ähnlichen oder niedrigeren Niveau der Gesamtversorgungslasten führt. Unter Zugrundelegung einigermaßen rea- listischer Annahmen läßt sich zeigen, daß unterhalb des Reproduktionsniveaus der Bevölkerung die minimalen demographischen Gesamtversorgungslasten wiederum ansteigen. Vgl.: Kaufmann 1984b. Man kann diesen Sachverhalt auch mit Dinkel als „intergenerationale Lastverschiebung“ bezeichnen. Das Ausmaß der durch die Nachwuchsbeschränkung resultierenden (und durch eine parallele Erhöhung der weiblichen Erwerbstätigkeit noch gesteigerten) Lastverschiebung ist allerdings von der institutionellen Ausgestaltung des Umlageverfahrens selbst mit abhängig, wie die Simulationsrechnungen von Dinkel (1986) zeigen. Sie sind im gegenwärtigen deutschen System besonders ausgeprägt.
Nach Berechnungen des Wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen beim BMJFG (1979) werden rd. 47% aller Kosten für das Aufbringen der nachwachsenden Generation von den Familien selbst getragen. Nicht enthalten sind dabei die unbezahlten Zeitaufwendungen für Erziehung und Pflege der Kinder, die jedoch für die Eltern selbstverständlich auch ins Gewicht fallen. Für eine zusammenfassende Darstellung und Diskussion der mit diesem Fragenkomplex zusammenhängenden Untersuchungen vgl. Leisering 1984.
Bei dieser Darstellung wurde im Sinne einer Hypothese davon ausgegangen, daß das Sozialleistungsniveau zwei Jahre vor dem Beobachtungszeitraum der Geburtenziffer den plausibelsten Einflußfaktor darstelle. Der Zusammenhang erweist sich aber auch bei einer Variation der Annahmen als ziemlich robust. Eine Wiederholung dieser Berechnungen für 1987/89 und 1996/97 erbrachte trotz der zwischenzeitlichen Ausweitung der EU auf zuletzt 15 Mitglieder noch deutlichere, in die Richtung des hier behaupteten Zusammenhangs weisende Ergebnisse; vgl. Kaufmann 2002: Tab. 12.4.
Quelle: OECD 1985: 30, 35–39, 48, 68f.. Zusammenstellung durch Lutz Leisering.
Dazu Kaufmann/Leisering 1987, sowie vertiefend Leisering 1992, 1992a,
Rights and permissions
Copyright information
© 2002 Springer Fachmedien Wiesbaden
About this chapter
Cite this chapter
Kaufmann, FX. (2002). Sozialpolitik und Bevölkerungsprozeß. In: Sozialpolitik und Sozialstaat: Soziologische Analysen. Sozialpolitik und Sozialstaat. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-99962-7_7
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-322-99962-7_7
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-322-99963-4
Online ISBN: 978-3-322-99962-7
eBook Packages: Springer Book Archive