Zusammenfassung
Die Kommunikationen des ästhetischen Feldes stellen Vernetzungen dar zwischen drei unterschiedlichen Bereichen: dem Bereich des Individuellen, des Besonderen und des Allgemeinen. Das Individuelle bezieht sich auf den Betrachter, den Teilnehmer am ästhetischen Geschehen. Über ein vielschichtiges System von Wahrnehmungsbereichen werden sowohl Informationen, Reize, Impulse aufgenommen als auch ausgesendet. Dieser Betrachter ist also nicht nur ein passiv Aufnehmender, vielmehr ist er der andere Pol am ästhetischen Geschehen. Er ist das Pendant zum ästhetischen Objekt; beide ergänzen einander, beide benötigen sich gegenseitig, das eine reduziert sich dementsprechend ohne das andere. Hier spielt auch das Psychische eine Rolle. Es kommt z. B. aufgrund persönlicher Erfahrungen zu Sublimierungen oder zu künstlerischen Betätigungen. Auf dieser Ebene kann das Ästhetische einen Ersatz bieten, wenn in der Persönlichkeitsstruktur sich etwa Unzulänglichkeiten, Beschädigungen, Frustrationen u. ä. ereignet haben. Auch kann das Ästhetische eine Art Symbolisierung bedeuten. In diesem Fall wäre das Ästhetische die Verallgemeinerung von Konkretem, die Wirklichkeit wird zur Abstraktion aufgehoben.
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Anmerkungen
Dies wird z. B. auch aus Untersuchungen über das Zuschauerverhalten hei Brechtstücken deutlich. Eine ähnliche Entsprechung des Zusammenspiels zwischen dem allgemeinen Gesellschaftlichen und dem alltäglichen Individuellen zeigen u. a. die Analysen Braudels, 1979, über den Austausch von Waren, Handelsbeziehungen und Informationen im französischen Mittelalter.
„Erfahrung“ als eine ästhetische Kategorie ist der Gegenstand einer literaturwissenschaftlichen Diskussion von Jauß, 1984, bei der, nach der Zeit des Beharrens auf kritischen Reflexionen (Adorno), wieder auf die psychische Befindlichkeit eingegangen wird. Sie steht im Gegensatz zu meßtechnischen und apparativen Beschäftigungen wie z. B. bei Garnich, 1976; Nees, 1966; Moles, 1971; Franke, 1971, 1973; Maser, 1970; Deken, 1980. Vergl. auch die Stellungnahme zur Debatte über Gibsons Theorie der Wahrnehmung einerseits und den Konstruktivisten andererseits, mithilfe einer „computer vision” zu neuen Annahmen zu gelangen, McArthur, 1982.
Gibsons Grundthesen (1982) sind: über die Netzhaut allein bildet sich dem Wahrnehmenden die Umwelt nicht ab, auch nicht über Laborexperimente, vielmehr sieht dieser mit dem ganzen Kopf und Körper, bewegt sich in einer überaus komplex wahrgenommenen Umwelt, welche ihm Angebote zum Wahrnehmen macht, die dieser dann aussucht (pick up). Shepard, 1984, weitet dieses Konzept auf die „inneren Bilder“ und die „Vorstellungen” aus, zudem auf Träume, Phantasien und Denken. Er betont, neben der Annahme von Wahrnehmungs-Invarianten wie bei Gibson, die „Resonanz“, die zwischen einzelnem und Umwelt besteht.
In diesem Zusammenhang erscheint der Künstler als derjenige, der sich auf der ständigen Suche nach Erweiterung der Sichtweisen, Begrifflichkeiten und Ideen befindet; Osborne, der englische Dichter, drückt sich (1979) ähnlich aus.
In diesem Zusammenhang läßt sich von „Vorgriffen“ sprechen (Rummenhöller, 1978), Tendenzen, die zu einer bestimmten Zeit noch nicht verwirklichbar erscheinen, aber bereits als Möglichkeit angelegt worden sind. Allerdings erscheinen solche Vorgriffe zumeist nur im nachhinein als solche, da sie sich zu ihrer Zeit wahrscheinlich auf das Gegenwärtige bezogen, oder aber das Unendliche anvisiert haben. Als Beispiel dafür läßt sich der Roman „Treibhaus” von Koeppen, 1969, anführen. Darin wird ein politisches und menschliches Klima der Bundesrepublik Deutschland der Nachkriegszeit geschildert, welches erst Jahre später allgemein empfunden und erkannt wird, etwa in der Zeit der ausgehenden siebziger Jahre. Auch die Musik von Krenek, Webern, Hauer enthält viele Momente der Erstmaligkeit, so war es unwahrscheinlich, daß sie zeitgerecht erkannt und auch anerkannt werden konnte. Eine solche Liste mit zeitlich unerkannten, erstmaligen Kunstwerken ließe sich auch für die Geschichte der Bildenden Kunst erstellen.
Vergl. dazu das Experiment von Kirkland und Wright, 1982, bei denen Vpn in der auswählenden Beurteilung von Portraitphotos beeinflußt wurden durch die Lachfältchen im Gesicht der abgebildeten Personen; sie waren sich dessen zu 80% der Fälle nicht bewußt.
Guilford, 1961. Vergl. das Experiment zum künstlerischen Schaffensprozeß von Sobel und Rothenberg, 1980.
Dies Konzept geht in der neueren Diskussion der Systemtheorie u. a. auf Nicolis u. Prigogine, 1977, zurück.
Ein Beispiel zur Verdeutlichung: die gekoppelten Bewegungen eines Klaviers (Weinreich, 1979). Die meisten der Töne eines Klaviers stammen aus den gebündelten Klängen zweier oder drei Saiten. Es befinden sich nun diese zwei oder drei Saiten jeweils nicht in einer genauen Übereinstimmung der Frequenz, sondern die Tonfrequenzen der einzelnen Saiten ein und desselben Tones variieren leicht voneinander. Daraus ergibt sich eine physikalische Modulation: die unterschiedlichen Frequenzen eines Tones überlagern sich gegenseitig. Daraus erklärt sich die Spannung beim Hören des Tones. Das Spezifische der Vortragskunst der Maria Callas bestand ja auch darin, daß sie ihre „großen Töne“ jeweils fast unmerklich „falsch” sang. Es ergeben sich aus dem Hören der ebenso leicht einander überlagerten Klaviertöne eine ebensolche Spannung und Dynamik beim Zuhörer. Erst wenn sich Frequenz, Klang und Nebentöne nicht in einem völligen Gleichgewicht zueinander befinden, erzeugen sie eine Bewegung, woraus sich die angespannte Aufmerksamkeit des Hörens herleitet. So wie die gekonnte Kopie eines Bildes meist dadurch auffällt, daß sie zu fehlerfrei gemalt ist, d. h. zu gleichgewichtig, so verraten sich die ästhetisch aussagefähigen Momente erst durch ein gewisses Maß an Ungleichgewicht.
„Regime“ bezieht sich auf den jeweiligen Zustand, Struktur und Funktion, sowie Fluktuation, eines Systems. Z. B. Jantsch, 1979, S. 61 ff.
Auf eine andere „Logik des Zerfalls“ hat Lüdke, 1981, im Zusammenhang mit Adornos Untersuchungen zu den Stücken von Samuel Beckett hingewiesen. (S. Anm. 15, Kap. 1)
Vergl. dazu das Interesse an der sogenannten Chaosforschung in den Wissenschaften z. B. über das Verhalten von Nervenzellen (Medical College of Pennsylvania), Herzkammer-flimmern (MIT), „Fractals“ in der Meteorologie, und andere Grenzbereiche „zwischen Ordnung und Chaos” (Kenneth Wilson). Der Zustand des Chaos, der Unordnung, wird dabei als Ausgangspunkt für Veränderung gesehen. Vergl. dazu auch die Schriften des Symposiums über die „Evolutionary Vision“ (Hrg. Jantsch, 1981).
„Spannung“ und „Entspannung” sind zwei der Grundkategorien der „Psychologie der Kunst“ von Kreitler und Kreitler, 1980, S. 31 ff.
Der Mensch als ein „Mängelwesen“ ist eine der Grundannahmen von Gehlen, 1974.
Dazu: Roland Fischers Modell über das Bewußtsein, 1971, in dem das mittlere Erregungszentrum gemeinhin als der Bereich des wachen Bewußtseins gilt.
Die Orientierung des Urmenschen an den Gegebenheiten der Natur als einen ungeordneten Raum stellen nach Eliade, 1978, einen Ausgangspunkt für die Entwicklung von „religiösen Ideen“ dar.
Baltrusaitis, 1984, spricht von der produktiven Kraft der „abirrenden Wahrnehmungen“, bei der sich die Blickwinkel „verzerren”, um dadurch erst Klarsicht zu gewinnen.
Auch in seinen Schriften betont er immer wieder diese Polarität seines Schaffens, Wright, 1941.
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Schurian, W. (1986). Offenheit und Ungleichgewicht. In: Psychologie Ästhetischer Wahrnehmungen. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-99872-9_3
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