Zusammenfassung
Haben das Volksbegehren und der Volksentscheid gegen den Youngplan im Herbst 1929 zur Zerstörung der Weimarer Demokratie wesentlich beigetragen? Haben sie Hitler salonfähig gemacht und der NSDAP den Weg zur Macht entscheidend geebnet?1 Jahrzehntelang waren dies keine Fragen, die wissenschaftlich ernsthaft erörtert worden wären. Es gehörte in der Bundesrepublik zu den Grundgewißheiten der „Weimarer Erfahrung“, sie eindeutig zu bejahen.2 Neuerdings wird diese Bewertung bestritten.3 Das Gesetzgebungsanliegen zur Reparationspolitik sei berechtigt und legitim gewesen. Die regierenden Parteien hätten deutliche Defizite in diesem Politikfeld erkennen lassen, das Volk habe daher durchaus korrigierend eingreifen dürfen. Das Volksbegehren sei nicht der Beginn des Aufstiegs der NSDAP. Von einem Durchbruch der NSDAP könne keine Rede sein. Die NSDAP habe sich statt auf Volksgesetzgebung stets auf Wahlen konzentriert und mit ihrer Hilfe schließlich die demokratiezerstörenden Erfolge erzielt.
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Literatur
Für Kritik und Hinweise danke ich Birgit Behrends, Jürgen Ackermann und Franz Walter.
Vgl. etwa Hans Mommsen, Die verspielte Freiheit: Der Weg der Republik von Weimar in den Untergang 1918–1933, Berlin (West) 1989, S. 287.
Karl Dietrich Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik: Eine Studie zum Machtverfall in der Demokratie, 5. Aufl., Villingen 1971, S. 282.
Dezidiert bei Volker R. Berghahn, Das Volksbegehren gegen den Young-Plan und die Ursprünge des Präsidialregimes 1918–1930, in: Dirk Stegmann u.a. (Hrsg.), Industrielle Gesellschaft und politisches System: Beiträge zur politischen Sozialgeschichte. Festschrift für Fritz Fischer zum siebzigsten Geburtstag, Bonn 1978, S. 431–446.
Vor allem durch Otmar Jung, vgl. ders., Plebiszitärer Durchbruch 1929? Zur Bedeutung von Volksbegehren und Volksentscheid gegen den Youngplan für die NSDAP, in: Geschichte und Gesellschaft 15 (1989), S. 489–510.
Vor allem durch Otmar Jung Ders., Direkte Demokratie in der Weimarer Republik: Die Fälle »Aufwertung“, „Fürstenenteignung“ und „Youngplan“, Frankfurt Main/New York 1989, S. 109–138.
Vor allem durch Otmar Jung Ders., Die „Weimarer Erfahrung“ mit der Volksgesetzgebung: Kritik und Tragweite: Stellungnahme zum Beitrag Meineke im Jahrbuch für Politik 1992, in: Jahrbuch für Politik 3 (1993), S. 63–92.
Vor allem durch Otmar Jung Ders., Zur Revision der „Weimarer Erfahrung“ mit der Volksgesetzgebung: Stellungnahme zum Beitrag Meineke im Jahrbuch für Politik 1994, in: Jahrbuch für Politik 5 (1995), S. 67–117. auf Volksgesetzgebung stets auf Wahlen konzentriert und mit ihrer Hilfe schließlich die demokratiezerstörenden Erfolge erzielt.
Vgl. die Positionen von Stefan Meineke in der Kontroverse mit Jung, Stefan Meineke, Die antiplebiszitäre Grundsatzentscheidung des Parlamentarischen Rates — eine Fehlverarbeitung der Geschichte?, in: Jahrbuch für Politik 2 (1992), S. 203–230.
Jung, Stefan Meineke, Ders., Die Weimarer Erfahrungen mit der Volksgesetzgebung: Bilanz der Forschung und Kritik neuerer Revisionsversuche, in: Jahrbuch für Politik 4 (1994), S. 105–156.
Die bisherige Forschung konzentrierte sich auf die Ebenen der Partei- und Verbandsführungen und auf die Reichsregierung. Sie stellte demokratietheoretische oder staatsrechtliche Fragen in den Mittelpunkt; vgl. neben den bereits genannten Titeln von Jung vor allem Reinhard Schiffers, Elemente direkter Demokratie im Weimarer Regierungssystem, Düsseldorf 1971. Eine Sozialgeschichte der politischen Rechten in der Weimarer Republik fehlt bisher; erst sie würde die Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichen Prozessen und Wahlentscheidungen aussagekräftig zu erhellen.
Vgl. Jürgen W. Falter, Hitlers Wähler, München 1991, S. 117–130.
Vgl. Peter Fritzsche, Rehearsals for Fascism: Populism and Political Mobilization in Weimar Germany, New York/Oxford 1990.
Vgl. Peter Fritzsche, Ders., Germans into Nazis, Cambridge, Mass./London 1998. Ferner Heinrich August Winkler, Weimar 1918–1933: Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, München 1993, S. 285–305.
Lager und Milieu umreißen den unterschiedlichen Grad, die andersartige Verbindlichkeit kommunikativer Verdichtung und weltanschaulicher Gemeinsamkeiten der politischen Basis und Anhängerschaft von Parteien. Beide Begriffe werden in Anlehnung an Lepsius durch Zusammenfassung unterschiedlicher Strukturmerkmale, wie Religion, regionale Tradition, Eliten, familiäre Bindungen oder Vereinsleben gebildet. Während bei einem Milieu die positiven Gemeinsamkeiten überwiegen und ein hohes Maß auch an vorpolitischer organisatorischer Verbindlichkeit und kommunikativer Vernetzung erreicht wird, fügt sich ein Lager schon durch wenige gemeinsame Ziele, einen gemeinsamen Gegner zusammen. Ein Milieu kann sich demnach aus einem Lager entwickeln, beide Begriffe sind in Anlehnung an E.P. Thompson als ein „Happening“ zu begreifen, als etwas, das in der sozialen Praxis tagtäglich neu entsteht. Vgl. M. Rainer Lepsius, Parteiensystem und Sozialstruktur: Zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft, in: Wilhelm Abel u.a. (Hrsg.), Wirtschaft, Geschichte und Wirtschaftsgeschichte, Festschrift zum 65. Geburtstag von Friedrich Lütge, Stuttgart 1966, S. 371–393, hier S. 383.
Karl Rohe, Wahlen und Wählertraditionen in Deutschland: Kulturelle Grundlagen deutscher Parteien und Parteiensysteme im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/Main 1992, S. 9–29.
E.P. Thompson, The Making of the English Working Class, London 1965, S. 85f.
Vgl. Rudy Koshar, Social Life, Local Politics and Nazism: Marburg 1880–1935, Chapel Hill 1986.
Helge Matthiesen, Konservatives Milieu in Demokratie und Diktatur: Eine Fallstudie am Beispiel der Region Greifswald in Vorpommern, Diss. Göttingen 1998.
Die Ausführungen zu Greifswald stützen sich auf Matthiesen (Anm. 9). Einzelbelege finden sich dort. Vgl. S. 57, S. 81–83, S. 97 sowie S. 148–154. Als Vergleich: Ders., Bürgertum und Nationalsozialismus in Thüringen: Das bürgerliche Gotha von 1918 bis 1930, Jena 1994, S.191–197.
Generell zum Ablauf und Verfahren des Volksbegehrens: Mommsen, Die verspielte Freiheit (Anm. 2), S. 283 ff.; Jung, Direkte Demokratie in der Weimarer Republik (Anm. 3), S. 109 ff.
Vgl. Jürgen Bergmann/Klaus Megerle, Protest und Aufruhr der Landwirtschaft in der Weimarer Republik (1929–1933). Formen und Typen der politischen Agrarbewegung im regionalen Vergleich, in: Dies, u.a., Regionen im historischen Vergleich, Opladen 1989, S. 200–287.
Einzige Monographie zum Thema ist immer noch Elisabeth Frieden thai, Volksbegehren und Volksentscheid über den Young-Plan und die deutschnationale Sezession, Diss. Tübingen 1957.
Vgl. vor allem Hans Joachim Bieber, Bürgertum in der Revolution: Bürgerräte und Bürgerstreiks 1918–1920, Hamburg 1992.
Berghahn, Das Volksbegehren gegen den Youngplan (Anm. 2).
Der Entwurf ist dokumentiert bei Jung, Direkte Demokratie (Anm. 3), S. 112 f.
Vgl. Jung, Direkte Demokratie (Anm. 3), S. 116.
Vgl. Greifswalder Zeitung vom 16. und 24.10.1929.
Vgl. Greifswalder Zeitung vom 19.10.1929.
Vgl. Greifswalder Zeitung vom 16. und 17.10.1929.
Zitat aus Bericht des Regierungspräsidenten in Stralsund vom 16.11.1929, in: Vorpommer-sches Landesarchiv Greifswald (VpLA), Rep. 65c Nr. 82.
Vgl. Bericht der Polizei über Vorkommnisse bei der Abwicklung des Volksbegehrens im Kreis Greifswald, in: VpLA. Rep. 65c Nr. 82.
Vgl. Greifswalder Zeitung vom 19.10. und 12.11.1929.
Vgl. Greifswalder Zeitung vom 23.12.1929.
Das war eine hochgradig umstrittene Frage, die am Ende durch das Reichsgericht zugunsten der Teilnahme von Beamten entschieden wurde; vgl. Erwin Bumke (Hrsg.), Teilnahme der Beamten an Volksbegehren und Volksentscheid, Berlin 1930.
Unterstrichen wird diese Tatsache durch den Zerfall der DNVP im Gefolge der Kampagne. Die gemäßigten Kräfte verließen die Partei; vgl. Berghahn, Das Volksbegehren gegen den Youngplan (Anm. 2), S. 443 f.
So vor allem bei Jung, Plebiszitärer Durchbruch 1929 (Anm. 3), S. 499 f.
Sie werden entgegen ihrer 1929 hohen Bedeutung selten überhaupt thematisiert, obwohl damit eine wichtige grundsätzliche Frage angeschnitten wird; vgl. Jung, Direkte Demokratie (Anm. 3), S. 116–120.
Vgl. Greifswalder Zeitung vom 18.10.1929.
Vgl. Greifswalder Zeitung vom 21.10.1929.
Vgl. weitere Beispiele in: VpLA. Rep. 65c Nr. 82.
Vgl. Schreiben des Landrates an den Regierungspräsidenten, 30.10.1929, in: VpLA. Rep. 65c Nr. 83.
Vgl. VpLA, Rep. 65c Nr. 82. Schreiben Oberbürgermeister an den Regierungspräsidenten vom 23.10.1929. Greifswalder Zeitung vom 29.10.1929.
Zitat aus einem Schreiben der Stadt an den Regierungspräsidenten, 28.10.1929, in: VpLA. Rep. 65c Nr. 83.
Greifswalder Zeitung vom 29.10.1929.
Deutlich wurde dabei ferner, auf welcher Seite die evangelische Kirche stand, denn bei den Überlegungen, wen man um eine Zeichnung bitten sollte, kam der Stralsunder Regierungspräsident zu dem folgenden Ergebnis: „Man [ist] an die protestantischen Geistlichen überhaupt nicht herangetreten, da deren staatsgegnerische Einstellung von vornherein bekannt war.“ Schreiben des Regierungspräsidenten Stralsund an Oberpräsident Stettin, 21.11.1929, in: VpLA. Rep. 65c Nr. 83.
Aufruf und Liste, in: VpLA. Rep. 65c Nr. 82.
Schreiben des Greifswalder Landrates an den Regierungspräsidenten vom 19.11.1929, in: VpLA. Rep.65cNr. 83.
Zitat aus einem Schreiben des Greifswalder Landrates an den Regierungspräsidenten, 23.11.1929, in: VpLA, Rep. 65c Nr. 83.
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Matthiesen, H. (1999). Volksgesetzgebung — eine Gefahr für die Demokratie? Das Youngplan-Referendum 1929 und die Weimarer Erfahrungen. In: Dürr, T., Walter, F. (eds) Solidargemeinschaft und fragmentierte Gesellschaft: Parteien, Milieus und Verbände im Vergleich. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-99787-6_5
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