Zusammenfassung
Im Zeitalter schwindender Ligaturen2 (wie Religions-, Klassen- oder Milieubindungen) und zunehmender Individualisierung stellt sich die Frage nach den gesellschaftlichen Grundwerten und sozialen Bindemitteln der liberalen Demokratien mit neuer Virulenz. Dem Gefühl vieler Menschen, in Zeiten rasanter Veränderungen zu leben und dabei den Boden unter den Füßen zu verlieren, wird von manchen Wissenschaftlern mit dem Verweis auf neue Lebenschancen und Wahlmöglichkeiten begegnet. Andere erkennen darin eine Gefahr für die Bürgergesellschaft, wenn aus dem Gefühl der Verunsicherung der Ruf nach traditionellen Integrationsmustern wie dem (ethnischen) Nationalismus oder dem religiösen Fundamentalismus resultiert, die die Integration einer homogenen Gemeinschaft durch die radikale Exklusion alles fremden‘ erreichen. In diesem Zusammenhang erscheint auch die wachsende Unlust der Bürger und Bürgerinnen, sich am politischen Leben aktiv zu beteiligen, als Krisensyndrom moderner Demokratien.3
„[...]; mais en même temps je professerai un si grand respect pour la justice,[...], queje ne puis pas croire qu ‘on n’ aperçoive pas nettement en moi un libéral d‘une espèce nouvelle, et qu‘on me confonde avec la plupart des démocrates de nos jours.“1
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Literatur
Alexis de Tocqueville, Tome V, Correspondance Anglaise, in: Ders., Œuvres complètes (édition définitive publiée sous la direction de J.-P. Meyer, Paris 1861, S. 433 (Hervorhebung d. V.).
Vgl. Ralf Dahrendorf, Das Zerbrechen der Ligaturen und die Utopie der Weltbürgergesellschaft, in: Ulrich Beck/Elisabeth Beck-Gernsheim (Hrsg.), Riskante Freiheiten, Frankfurt/Main 1994, S. 421–436.
Bei der Analyse dieser “Politikverdrossenheit“ oder “Parteienverdrossenheit“ in Deutschland gilt es allerdings zwischen ressentimentgeladenem Lamento über die Allmacht der Parteien und handfesten Gründen für die Unzufriedenheit mit dem deutschen Parteiensystem zu differenzieren. Vgl. Peter Lösche, Parteienverdrossenheit ohne Ende? Polemik gegen das Lamentieren deutscher Politiker, Journalisten, Politikwissenschaftler und Staatsrechtler, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 26 (1995) 1, S. 149–159.
Tocqueville wuchs zwischen den Zeiten auf — die Zeit der Aristokratie, so erkannte er, war endgültig vorbei und die Zeit eines demokratischen Systems in Frankreich war noch nicht gekommen: „Je suis venu au monde à la fin d‘une longue Révolution qui, après avoir détruit l‘état ancien, n‘avait rien créé de durable. L‘aristocratie était morte quand j‘ai commencé à vivre et la Démocratie n‘existait point encore; [...].“ Alexis de Tocqueville, Tome VI, Correspondance Anglaise, in: Ders., Œuvres complètes (édition définitive publiée sous la direction de J.-P. Meyer), 6. Aufl., Paris 1954, S. 37.
Es werden des besseren Verständnisses wegen, wo möglich, die deutschen Übersetzungen aller hier relevanten Werke herangezogen.
Stephen Holmes, Die Anatomie des Antiliberalismus, Hamburg 1995, S. 35.
Vgl. Joseph de Maistre, Betrachtungen über Frankreich. Über den schöpferischen Urgrund der Staatsverfassungen, hrsg. von Friedrich Meinecke/Hermann Oncken, Klassiker der Politik, Band 11, Berlin 1924.
Vgl. Alexis de Tocqueville, Der alte Staat und die Revolution, hrsg. von J.-P. Meyer, Bremen 1959.
„In seinem Buch finden sich einerseits alle Bestandteile der Kritik, die von der Rechten an der französischen Revolution geübt worden ist; andererseits rechtfertigt er sie aber durch die Geschichte oder die Unvermeidlichkeit der Ereignisse, wobei er bedauert, daß die Dinge keinen anderen Verlauf genommen haben.“ So Raymond Aron, Hauptströmungen des soziologischen Denkens, Erster Band: Montesquieu, Auguste Comte, Karl Marx, Alexis de Tocqueville, Köln 1971, S. 221.
Tocqueville, Der alte Staat (Anm. 8), S. 16.
Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Erster Teil, Zürich 1987, S. 14.
Tocqueville, Demokratie, Erster Teil (Anm. 11), S. 14.
Ebd.
Ebd., S. 15.
Ebd.
Tocqueville, Der alte Staat (Anm. 8), S. 35.
Vgl. Albert O. Hirschman, Denken gegen die Zukunft: Die Rhetorik der Reaktion, München 1992, S. 59–61.
Tocqueville, Demokratie, Erster Teil (Anm. 11), S. 9.
Vgl. Hirschman, Denken gegen die Zukunft (Anm. 17), S. 60.
Maistre, Betrachtungen (Anm. 7), S. 29.
Ebd., S. 68.
Ebd., S. 32.
Joseph de Maistre, Étude sur la souvraineté, in: Charles de Maistre (Hrsg.), Œuvres inédites du Comte Joseph de Maistre (Mélanges), Paris 1870, S. 175–440, hier S. 225.
Vgl. Hirschman, Denken gegen die Zukunft (Anm. 17), S. 29–31.
Maistre, Betrachtungen (Anm. 7), S. 99.
Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Zweiter Teil, Zürich 1987, S. 486 f.
Tocqueville, Der alte Staat (Anm. 8), S. 195f.
Vgl. Aron, Hauptströmungen (Anm. 9), S. 223.
Tocqueville, Demokratie, Erster Teil (Anm. 11), S. 13.
Maistre, Betrachtungen (Anm. 7), S. 61.
Ebd., S. 65.
Ebd., S. 67.
Maistre, Betrachtungen (Anm. 7), S. 155.
Vgl. Tocqueville, Der alte Staat (Anm. 8), S. 19 f.
„Die Lage der Bauern war — trotz der Fortschritte der Zivilisation — im 18. Jahrhundert zuweilen schlechter als im dreizehnten“, ebd., S. 152.
Ebd., S. 141.
Tocqueville, Demokratie, Zweiter Teil (Anm. 26), S. 16.
Tocqueville, Der alte Staat (Anm. 8), S. 173.
Die politische und gesellschaftliche Situation in England ist für Tocqueville ein Vorbild, da es in England gelungen war, durch rechtzeitige Reformen eine Revolution zu verhindern und die Aristokratie als gesellschaftliche und politische Elite zu bewahren. Auch de Maistre sieht — gerade im Hinblick auf die mangelnde schriftliche Fixierung — in der englischen Verfassung ein Vorbild. Eine nähere Untersuchung ihres Englandbildes sowie eine Einbeziehung von Edmund Burke in den Vergleich mit Tocqueville und de Maistre steht noch aus.
Tocqueville, Der alte Staat (Anm. 8), S. 177.
Ebd., S. 189.
Maistre, Étude (Anm. 23), S. 301.
Ebd., S. 246.
Maistre, Étude (Anm. 23), S. 247.
Ebd., S. 231.
Ebd., S. 248.
Tocqueville, Demokratie, Erster Teil (Anm. 11), S. 136.
Tocqueville, Demokratie, Zweiter Teil (Anm. 26), S. 15.
Vgl. Tocqueville, Demokratie, Zweiter Teil (Anm. 26), S. 44.
Tocqueville, Der alte Staat (Anm. 8), S. 20.
Tocqueville, Demokratie, Zweiter Teil (Anm. 26), S. 18.
Ebd. (Hervorhebungen d. V.).
Tocqueville, Demokratie, Zweiter Teil (Anm. 26), S. 20.
Vgl. ebd., S. 34.
Ebd., S. 37 (Hervorhebungen d. V.).
Vgl. ebd., S. 43.
Ebd., S. 46.
Tocqueville, Der alte Staat (Anm. 8), S. 9.
Roger Boesche, The Strange Liberalism of Alexis de Tocqueville, Ithaca/London 1987, S. 50 f.
Tocqueville, Demokratie, Erster Teil (Anm. 11), S. 66 f.
Vgl. Irene Albers, „Kunst der Freiheit“. Kommunitaristische Anleihen bei Tocqueville, in: Christel Zahlmann (Hrsg.), Kommunitarismus in der Diskussion: Eine streitbare Einführung, 2. Aufl., Berlin 1994, S. 35–41.
Vgl. Boesche, Strange Liberalism (Anm. 59).
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© 1999 Leske + Budrich, Opladen
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Ruge, U. (1999). Glaube und Gemeinschaft: Der „konservative Liberalismus“ des Alexis de Tocqueville. In: Dürr, T., Walter, F. (eds) Solidargemeinschaft und fragmentierte Gesellschaft: Parteien, Milieus und Verbände im Vergleich. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-99787-6_29
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