Zusammenfassung
Das Ernährungsproblem bestimmte spätestens seit Ende 1943 die unmittelbaren Beziehungen in den Familien und in den Betrieben ebenso wie die gesamtgesellschaftlichen Interessenlagen. Die Vielzahl sozialer Versorgungs- und Verteilungskonflikte, durch die Kriegswirtschaft bereits stark verengt auf Subsistenzfragen, gerann, bei einer täglichen Rationshöhe von bestenfalls 1700 Kalorien, mit Kriegsende nahezu völlig zum Konflikt um die Lebensmittelversorgung und zum nackten Kampf gegen den Hunger. Seit 1942 war die Bevölkerung mit einer Reihe von sich verschärfenden und in immer kürzeren Intervallen hereinbrechenden Hungerkrisen konfrontiert worden, die erst seit der Währungsreform im Juli 1948 sich rasch und deutlich abschwächten1. Dem NS-System war es noch weitgehend gelungen, die Verteilungskonflikte der in ein Zuteilungssystem mit Verbraucherklassen gezwängten Bevölkerungsschichten mit einer Mischung aus Zwang und Sonderrationen unter Kontrolle zu halten. Bei Kriegsende bestanden damit schon weitgehend ernährungsbedingte soziale Konfliktlinien, deren inzwischen aufgestautes Konfliktpotential sich in den unmittelbaren Nachkriegsjahren um so heftiger entlud. Als sich die Versorgungslage verbesserte, schwächten sich die Auseinandersetzungen zwischen Verbrauchern, Händlern und Erzeugern nur langsam ab. Auch nach 1948 blieb das Ernährungsproblem — jetzt in der Form hoher Lebensmittelpreise — virulent und Ursache sozialer Konflikte in der Nachkriegsgesellschaft.
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Literatur
Zur Ernährungslage nach 1945 vgl. Paul Erker, Ernährungskrise und Nachkriegsgesellschaft. Bauern und Arbeiterschaft in Bayern 1943–1953, Stuttgart 1990, und für die Ernährungspolitik Günter J. Trittel, Hunger und Politik. Die Emährungskrise in der Bizone (1945–1949), Frankfurt a.M. 1990.
Vgl. dazu am Beispiel der MAN in Augsburg näher Paul Erker, Die Arbeiter bei MAN 1945–1950, in: Klaus Tenfelde (Hrsg.), Arbeiter im 20. Jahihundeit, Stuttgart 1991, S. 548–574.
In der Forschung, die den sozialen Konflikten der unmittelbaren Nachkriegszeit noch wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat, wurde - allerdings nicht sehr überzeugend - bisher vor allem eine modernisierende und (ent)politisierende Bedeutung der sozialen Konflikte behauptet. Alan Kramer etwa stellt die These auf, daß die allgemeine Individualisierung durch die Schwarzmarktzeit und damit das weitgehende Fehlen kollektiver Protestformen den Individualisierungstrend und damit ein Modernisierungselement in der westdeutschen Gesellschaft der 1950er Jahre vorweg nahm. Vgl. Alan Kramer, “Law-abiding Germans”? Social Disintegration, Crime and the Reimposition of Order in Post-war Western Germany, 1945–49, in: Richard J. Evans (Hrsg.), The German Underworld. Deviants and Outcasts in Genpan History, London 1988, S.238–261. Christoph Kleßmann und Peter Friedemann haben schon vor geraumer Zeit dagegen den hohen politischen Gehalt des Protestpotentials in den Hungerjahren betont, der allerdings von den Gewerkschaften nicht genutzt worden sei. Vgl. Christoph Kleßmann/Peter Friedemann, Streiks und Hungermärsche im Ruhmgebiet 1946–1948,Frankfurt a.M. 1977. Vor allem Trittel hat schließlich behauptet, daß in der Ernährungskrise und den dabei artikulierten Protesten eine starke Tendenz zur politischen Apathie verbunden mit Demokratiekritik zum Ausdruck gekommen sei. Vgl. Günter J. Trittel, Hunger und Politik in Westdeutschland, 1945–49. Umrisse eines zentralen Nachkriegsphänomens, in: Sozialwissenschaftliche Informationen für Unterricht und Studium,14/1985, S.126–135. Vgl. demgegenüber meine Bemerkungen in: Emäluungskrse und Nachkriegsgesellschaft (Anm.1), S. 221ff.
Vgl. dazu etwa die Stimmungsberichte der Polizeidir. München, im Staatsarchiv München (StAM), 10954–10958.
Bayerisches Hauptstaatsarchiv, München (BayHStA), MArb 7786, Bericht des Regierungspräsidenten von Niederbayern vom August 1947.
Stadtarchiv München (StaMü), Pol.Dir. Mü 10957 vom November 1946, S. 15.
StAM, LRA Rosenheim 57248 vom Juli 1947. Vgl. auch National Archives, Washington (NA), RG 260 10/85–2/8, vom 11.6.1947, p.8, Wochenbericht der Intelligence Division.
Bayerisches Landwirtschaftsministerium (LwMi), Registratur-Akt 6049e vom Juni 1947, S.12.
StAM, LRA Berchtesgaden 30751 vom Januar 1948 und vgl. auch NA, RG 260, 10/85–2/8 vom Juni 1947.
NA, RG 260, 10/71–3/77, S.3.
LwMi, Registratur-Akt 6049e vom April 1947, S.6.
StAM, PolDir. München 10956, vom Oktober 1946, S. 20.
Zum Begriff der “zweiten Ökonomie” vgl. Lutz Niethammer, Privat-Wirtschaft. Erinnerungsfra ente einer anderen Umerziehung, in:ders. (Hrsg.), “Hinterher merkt man, daßs richtig war, daß es schiefgegangen ist” Nachkriegserfahrungen im Ruhrgebiet,Bonn 1983, S.17–106.
Vgl. zur Phase nach dem Ersten Weltkrieg und zum Stadt-Land-Begriff Klaus Tenfelde, Stadt und Land in Krisenzeiten. München und das Münchner Umland zwischen Revolution und Inflation 1918 bis 1923, in: ders. (Hrsg.), Soziale Räume in der Urbanisierung, München 1990, S. 37–57.
StAM, Pol.Dir. München, 10958 vom Dezember 1946, S. 21.
Ebd. und StAM, Pol.Dir. München, 10957 vom November 1946.
StAM, LRA München 148462 vom Dezember 1947.
LwMi, Registratur-Akt 6049e vom Oktober 1947, S.7 und vgl. ebd. vom September 1947, S. 4.
Institut für Zeitgeschichte, Archiv (I1Z), Nachlaß Josef Baumgartner (ED 132), Bd. 95 vom November 1945.
Vgl. NA, RG 260, 10/85–2/14, ID-Report vom 23. 7. 1947, p. 8.
Vgl. WL Nachlaß Josef Baumgartner (ED 132), Bd. 96 und Landwirtschaftliches Wochenblatt vom 30.8.1947.
Vgl. z.B. NA, RG 260 15/144–1/24.
Vgl. dazu etwa NA, RG 260, 13/142–1/6 und NA, RG 260, 7/36–2/4 vom 19.11.1948 “Industrial unrest in Bavaria”.
StAM, PolDir. München 10957 vom November 1946, S. 21.
Vgl. StaMü, Ratspr. 721/1–3 vom 13.5. 1948, S.989ff. und NA, RG 260, 7/36–2/4.
NA, RG 260 10/110–2/16 vom 19. 11. 1948, p. 6.
Vgl. NA, RG 260, 10/86–3/8 und 10/85–3/1 vom 4.9. 1946, S.17. Vgl. auch StAM, LRA München 148462 vom November 1946.
Zitiert nach Karl-Heinz Rothenber, er, Die Hun eijalur nach dein Zweiten Weltkrieg. Emährungs-und Landwirtschaft in Rheinland-Pfalz 1945–1950,Boppard 1980, S. 140.
BayHStA, MWi 11713, Monatsbericht des Regierungspräsidenten von Oberbayern, S.38.
Vgl. dazu Hellmuth von Weber, Vom Diebstahl in rechter Hungersnot, in: Monatsschaft für Deutsches Recht, 1/1947, S.78ff. Der Begriff “Grenzmoral” geht zurück auf Werner Schöllgen, Der Mensch und seine soziale Gebundenheit, Essen 1946.
StaMü, Wirtschaftsamt Nr. 70 vom August 1948, S.3.
BayHStA, MWi 11715, Monatsbericht vom September 1948, S.14.
Ebd., Monatsbericht vom Oktober 1948, S.19.
Vgl. BayHStA, MArb 7744, Monatsbericht des Regierungspräsidenten von Niederbayern vom September 1952 und LwMi, Registratur 6049 e/2–3, Landwirtschaftsamt Weißenburg vom Oktober 1950.
Vgl. DGB-Archiv-Augsburg, Verbraucher-Nachrichten der Konsumgenossenschaft Augsburg vom 1. 10. 1951.
Vgl. z.B. StAM, LRA Tölz 134070 vom März 1950.
Vgl. z.B. NA, RG 260, 7/36–2/4 vom 20.8. 1948, S. 3f.
NA, RG 260, 7/36–2/4 vom 10. 9. 1948, S. 11.
Vgl. dazu Lore Pechtold, Die Kauumbrotsubventionierung van 21.Juli 1950 bis 15.Febmar 1953, Diss. Köln 1959.
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Erker, P. (1994). Hunger und sozialer Konflikt in der Nachkriegszeit. In: Gailus, M., Volkmann, H. (eds) Der Kampf um das tägliche Brot. Schriften des Zentralinstituts für sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität Berlin. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-99757-9_20
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