Zusammenfassung
Der zeitgenössischen Kritik war die Penthesilea ein „genialisches Ärgernis“.1 Kleist wußte, daß er damit Grenzen überschritt und Tabus verletzte: Grenzen der Bühne und Schauspielkunst seiner Zeit, des Einfühlungsvermögens der Zuschauer in die „dramatische Motivierung“ und der Anforderungen des Publikums an die „Sittlichkeit und Moral“.2 Was Kleist unseren Sinnen zumutet, hat nicht nur die meisten seiner Zeitgenossen schockiert. Auch viele Germanisten richteten ihren Blick lieber auf das „Seelendrama“3 als auf die Ästhetik der grenzüberschreitenden „Sinnlichkeit“ des Textes. Und noch in einer Besprechung seiner Berliner Inszenierung wurde Hans Neuenfels für seine „schöpferische Kritik“ gelobt, die Kleist „zur Raison gerufen“ habe.4 Wer Grenzen überschreitet, muß damit rechnen, daß ihn die „Vernunft“ der Zurückbleibenden einholt: indem seine „Verirrungen“ sanktioniert, klassifiziert oder auch wohlwollend „interpretiert“ werden.
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Literatur
Allgemeine Zeitung, 19. Sept. 1808. Zit. n.: Helmut Sembdner (Hrsg.): Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen. München 1969, S. 208.
Kleist an Marie von Kleist, Spätherbst 1807. In: Heinrich von Kleist. Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. von Helmut Sembdner. 3. Auflage, München 1964, Bd II, S. 796f. Ich zitiere nach dieser Ausgabe (“SW”) unter Angabe von Band und Seitenzahl. Zitate aus der “Penthesilea” werden im Text durch Angabe der Versziffer in Klammern nachgewiesen.
Jochen Schmidt: Heinrich von Kleist. Studien zu seiner poetischen Verfahrensweise. Tübingen 1974, S. 134.
Zit. n. Robert Raiser. Heinrich von Kleists “Penthesilea” - eine Uraufführung? NDH 29, 1982, S. 196–200, S. 196.
Friedrich Schiller. Über die Iphigenie auf Tauris. In: Ders.: Sämtliche Werke Bd 5. 3. Aufl. 1962, S. 943.
Kleist: Dediktion der Penthesilea. SW I, S. 20.
Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 6. Aufl. Frankfurt a.M. 1978. Vgl. insbesondere Bd 2, S. 369ff.: “Die Dämpfung der Triebe”.
Wilhelm von Humboldt: Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluß auf die organische Natur. In: Ders.: Werke in fünf Bänden, Bd I Darmstadt 1960, S. 268–295, S. 287.
Dirk Grathoff: Liebe und Gewalt. Überlegungen zu Kleists “Penthesilea” anläßlich der Berliner Rosenfeier der Freunde Carla Tato und Carlo Quartucci. Ausstellungskatalog der daadgalerie. Berlin 1984, S. 99–105, S. 103.
Adolf Wilbrandt: Heinrich von Kleist (1863). Zit. n.: Helmut Sembdner (Hrsg.): Heinrich von Kleists Nachruhm. Eine Wirkungsgeschichte in Dokumenten. Bremen 1967, S. 586.
Die stichwortartig genannten Deutungen sollen natürlich nur den Rahmen abstecken, in dem sich die Interpretationen bewegen. Ich verzichte deshalb auf Nachweise im einzelnen. Zur älteren Rezeptionsgeschichte vgl. Werner Schmidt: “Penthesilea” in der Kleistliteratur. Leipzig 1934. Vgl. auch Peter Goldammer. Heinrich von Kleists “Penthesilea”. Kritik der Rezeptionsgeschichte als Beitrag zur Interpretation. Impulse F. 1, 1978, S. 200–231.
Clemens Lugowski: Wirklichkeit und Dichtung. Untersuchungen zur Wirklicheitsauffassung Heinrich v. Kleists. Frankfurt a.M. 1936, S. 166.
Rolf Grimminger. Die Utopie der vernünftigen Lust. Sozialphilosophische Skizze zur Ästhetik im 18. Jahrhundert bis zu Kant. In: Chr. Bürger, P. Bürger, J. Schulte-Sasse (Hrsg.): Aufklärung und literarische Öffentlichkeit. Frankfurt a.M. 1980, S. 116–132.
Volker Klotz: Aug um Zunge - Zunge um Aug. Kleist-Jahrbuch 1985, S. 136.
Friedrich Gundolf. Kleist. Berlin 1922, S. 100.
Dietmar ‘Camper und Christoph Wulf (Hrsg.): Die Wiederkehr des Körpers. Frankfurt a.M. 1982. Ich zitiere den Titel, um den “Diskurs” anzudeuten, dem ich Anregungen zu meiner Interpretation verdanke.
Schmidt, a.a.O. (Anm. 3), S. 223.
Mathieu Carrière: Für eine Literatur des Krieges. Kleist. Basel 1984, S. 58 u. 116.
Ebd., S. 83.
Adam Müller an Friedrich Gentz, 6. Febr. 1808. Zit. n.: Lebensspuren, S. 168f.
Kleist an Marie von Kleist, Spätherbst 1807. Zit. n.: Klaus Kanzog: Die Kleist-Aufzeichnungen von Wilhelm von Schütz. JbdSG 1969, S. 39.
Vgl. zu diesem “männlichen” Blick Gisela Schneider/ Klaus Laermann: Augen-Blicke. Über einige Vorurteile und Einschränkungen geschlechtsspezifischer Wahrnehmung. Kursbuch 49. Berlin 1977, S. 36–58, S. 47f.
Vgl. Walter Müller-Seidel: “Penthesilea” im Kontext der deutschen Klassik. In: Walter Hinderer (Hrsg.): Kleists Dramen. Neue Interpretationen. Stuttgart 1981, S. 144–171, S. 146.
Ursula Geitner. Passio Hysterica - Die alltägliche Sorge um das Selbst. Zum Zusammenhang von Literatur, Pathologie und Weiblichkeit im 18. Jahrhundert. In: Frauen - Weiblichkeit - Schrift. Argument Sonderband AS 134. Berlin 1985, S. 130–144, S. 137.
Karl Philipp Moritz: Götterlehre oder Mythologische Dichtungen der Alten. In: Ders.: Werke. Hrsg. von H. Günther. Bd 2 Frankfurt a.M. 1981, S. 740.
Ich übernehme die Formulierung von Gert Mattenklott: Der übersinnliche Leib. Beiträge zur Metaphysik des Körpers. Reinbek bei Hamburg 1982, S. 78ff.
Kleist an Marie von Kleist, SW II, S. 796.
Ich übernehme den Begriff von Klaus Theweleit: Männerphantasien. Bd 2: Männerkörper. Frankfurt a.M. 1978; im Kapitel “Kampf und Körper” (S. 205ff.) zitiert Theweleit als Beispiel der Verbindung von “Kampf” und “Liebe” folgende Textstelle:“…morgen muß ich zur Front, hinein in die flammende Umarmung der Granaten, entgegen den knallenden Küssen der Gewehrschüsse unter den glühenden Liebesblicken der Flugzeuge” (Fr. Schauwecker: Der feurige Weg. Berlin 1927 ).
Vgl. Dolf Sternberger. Der Kampf der Liebenden. Über Kleists “Penthesilea”. In: Ders.: Figuren der Fabel. Berlin 1950. S. 93–105, S. 99f.
Vgl. Robert Labhart: Metapher und Geschichte. Kleists dramatische Metaphorik bis zur “Penthesilea” als Widerspiegelung seiner geschichtlichen Position. Kronberg/Ts 1976, S. 268.
Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Hrsg. von W. Weischedel, Bd 10 Darmstadt 1968, S. 433.
Die Formulierung spielt kritisch auf Titel und Grundthese von Ilse Grahams Monographie an, die von Kleists gestörtem Verhältnis zur Symbolbildung ausgeht und in der “Penthesilea” die zerstörerische “regression into physicality” aufzeigen will. Dies., Word into Flesh: A Poet’s Quest for the Symbol. Berlin, New York 1977, S. 243.
Ernst Osterkamp: “Wandlung einer Seele aus Extrem in Extrem”. Rudolf Borchardt über Heinrich von Kleist. In: Kleist-Jahrbuch 1983, S. 10–32, S. 25ff.
Vgl. Kleist an Ernst v. Pfuel, 7. Jan. 1805: “Ich habe Deinen schönen Leib oft… mit wahrhaft mädchenhaften Gefühlen betrachtet… Dein kleiner, krauser Kopf, einem feisten Halse aufgesetzt, zwei breite Schultern, ein nerviger Leib, das ganze ein musterhaftes Bild der Stärke”. ( SW II, S. 749 )
Klotz, a.a.O.(Anm. 14), S. 141.
Müller an Gentz, Lebensspuren, (Anm. 1), S. 169.
Max Kommerell: Beiträge zu einem deutschen Calderon.Bd I Frankfurt a.M. 1944, S. 179. Zit. n.: H.M. Brown: Kleist and the Tragic Ideal. Bern 1977, S. 51.
Julien Gracq: Der Frühling des Mars. In: Ders.: Entdeckungen. Essays zur Literatur und Kritik. Stuttgart 1965, S. 198–207, S. 202.
Vgl Lilian Hoverland: Heinrich von Kleist und das Prinzip der Gestaltung. Königstein/Ts 1978, S. 67ff.
Gerhard Kaiser. Mythos und Person in Kleists “Penthesilea”. In: Ders.: Wanderer und Idylle. Göttingen 1977, S. 209–239, S. 215f.
Jean-Jacques Rousseau: Emile oder über die Erziehung. Stuttgart 1978, S. 722.
Johann Jakob Bachofen: Das Mutterrecht. In: Den.: Gesammelte Werke Bd 2. Basel 1948, S. 99.
Ilse Graham: Der Wissende und seine Welt. Kant - Goethe - Kleist. Jb FDH 1979, S. 199–234, S. 233.
Kleist an Heinrich Lohse, 23. Dez. 1801, SW II, S. 709.
Walter Muschg: Kleist. Zürich 1923, S. 87. Neben Muschg hat vor allem Friedrich Gundolf die ″Sinnlichkeit″ von Kleists “Penthesilea” gesehen: “sinnlos, ideenlos, aber berückend wie ein unheimlicher Traum oder eine nervenaufwühlende Musik” (Den.: Kleist. Berlin 1922, S. 103.).
Klotz, a.a.O. (Anm. 14), S. 138.
Schmidt, a.a.O. (Anm. 3), S. 135.
Vgl. Peter Dettmering Heinrich von Kleist. Zur Psychodynamik in seiner Dichtung. München 1975, S. 19–30. Sven Olaf Hoffmann: Das Identitätsproblem in Heinrich von Kleists “Penthesilea”. In: J. Cremerius (Hrsg.): Psychoanalytische Textinterpretation. Hamburg 1974, S. 172–180. Ilse Graham: Zur Ätiologie eines Rätselhaften. Kleist-Jahrbuch 1981/82, S. 98–114.
Klotz, a.a.0. (Anm. 14), S. 138.
Vgl. u.a. Ilse Graham (Anm. 48), S. 113: “wir stehen… dem Regreß des Kleinkindes zu seiner rudimentärsten, kannibalistischen Entwicklungsstufe gegenüber.”
Heiner Weidmann: Heinrich von Kleist - Glück und Aufbegehren. Eine Exposition des Redens. Bonn 1984, S. 154.
Kleist an Wilhelmine von Zenge, 11. Jan. 1801, SW II, S. 610.
Kaiser, a.a.O. (Anm. 40), S. 222.
SW I, S. 884. In die Buchausgabe hat Kleist diesen “Wahn” nicht aufgenommen.
Ebd., S. 883.
Vgl. Michael Wimmer: Der gesprochene Körper. Zur Authentizität von Körpererfahrungen in Körpertherapien. In: Die Wiederkehr des Körpers, a.a.O., S. 82–96.
Kleist an Rühle von Lilienstern, Nov. 1805, SW II, S. 760.
Christa Wolf: Kleists “Penthesilea”. In: Heinrich von Kleist: Penthesilea. Ein Trauerspiel. Wiesbaden oJ., S. 159.
Friedrich Nietzsche: Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre. In: Den.: Werke in drei Bänden. Bd 3 Darmstadt 1963, S. 453f.
Christiaan L. Hart Nibbrig: Die Auferstehung des Körpers im Text. Frankfurt a.M. 1985.
Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a.M. 1969, S. 40.
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Nutz, M. (1988). Lektüre der Sinne. In: Grathoff, D. (eds) Heinrich von Kleist. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-99716-6_10
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