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Die Krise des industriellen Etatismus und der Zusammenbruch der Sowjetunion

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Jahrtausendwende
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Zusammenfassung

Der plötzliche Zusammenbruch der Sowjetunion und damit auch das Ende der internationalen kommunistischen Bewegung geben ein historisches Rätsel auf: Warum sahen die sowjetischen Führer in den 1980er Jahren die Dringlichkeit, sich auf einen Neustrukturierungsprozess einzulassen, der so radikal war, dass er am Ende zur Auflösung des sowjetischen Staates führte? Schließlich war die Sowjetunion nicht nur eine militärische Supermacht, sondern auch die drittgrößte industrialisierte Volkswirtschaft der Welt, der weltgrößte Produzent von Erdöl, Erdgas und seltenen Erden und als einziges Land Selbstversorger bei Energiequellen und Rohstoffen. Es stimmt, dass Symptome ernstlicher wirtschaftlicher Konstruktionsfehler seit den 1960er Jahren diagnostiziert worden waren, die Wachstumsrate war seit 1971 zurückgegangen, bis sie 1980 zum Stillstand kam. Aber auch westliche Volkswirtschaften haben während der letzten beiden Jahrzehnte zu verschiedenen Zeitpunkten eine Tendenz der Verlangsamung des Produktivitätswachstums oder auch negatives Wirtschaftswachstum erlebt, ohne dass es zu katastrophenhaften Folgen gekommen wäre. Die sowjetische Technologie hinkte offenbar in einigen kritischen Bereichen hinterher, aber insgesamt hat die sowjetische Wissenschaft ihre herausragenden Standards in wesentlichen Bereichen gehalten: Mathematik, Physik, Chemie, nur die Biologie hatte etwas Probleme, sich von den Narreteien Lysenkos zu erholen. Die Erweiterung dieser Fähigkeit zur Verbesserung der technologischen Standards schien nicht ausgeschlossen, wie der Vorsprung des sowjetischen Weltraumprogramms gegenüber den kläglichen Leistungen der NASA während der 1980er Jahre zu belegen scheint. Die Landwirtschaft befand sich nach wie vor in einer Dauerkrise, und die Knappheit an Konsumgütern war eher die Regel, aber die Exporte von Energie und Rohstoffen sorgten wenigstens bis 1986 für ein Polster an harter Währung, um diese Probleme durch Importe auszugleichen. Daher waren die Lebensbedingungen der Sowjetbürger Mitte der 1980er Jahre besser, nicht schlechter als ein Jahrzehnt zuvor.

Wenn die Sowjetunion 50 Mio. Tonnen Roheisen produziert, 60 Mio. Tonnen Stahl, 500 Mio. Tonnen Kohle und 60 Mio. Tonnen ÖL, dann werden wir vor jeglichem Ungemach gefeit sein. Stalin, Rede im Februar 19461

Der Widerspruch zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und den wachsenden Bedürfnissen der Gesellschaft einerseits sowie den zunehmend obsoleten Produktionsverhältnissen des alten wirtschaftlichen Leitungssystems andererseits, der während der 1950er Jahre offenkundig wurde, verschärfte sich mit jedem Jahr. Die konservative Struktur der Volkswirtschaft und die Tendenzen zum extensiven Investieren verwandelten sich zusammen mit dem rückständigen System der Wirtschaftsleitung allmählich in eine Bremse und in ein Hindernis für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung des Landes. Abel Aganbegjan, The Economic Challenge of Perestroika, S. 49

Die Weltwirtschaft ist ein einheitlicher Organismus, außerhalb dessen sich kein einziger Staat normal entwickeln kann. ... Das setzt die Ausarbeitung eines völlig neuen Mechanismus für das Funktionieren der Weltwirtschaft auf die Tagesordnung einer neuen Struktur der internationalen Arbeitsteilung. Zugleich deckt das Wachstum der Weltwirtschaft die Widersprüche und Schranken auf die der Industrialisierung traditionellen Typs anhaften. Michail Gorbatschow, Rede vor den Vereinten Nationen, 19882

Wir werden eines Tages einsehen, dass wir in Wirklichkeit das einzige Land der Welt sind, das versucht, das 21. Jahrhundert mit der überholten Ideologie des 19. Jahrhunderts zu beginnen Boris Jelzin, Memoiren, 1990, S. 2453

Dieses Kapitel basiert auf gemeinsamer Forschung mit Emma Kiselyova, mit der zusammen es auch ausgearbeitet und geschrieben wurde. Es beruht vor allem auf zwei Arten von Informationen. Die erste ist die Feldforschung, die ich zwischen 1989 und 1996 in Moskau, Zelenograd, Leningrad, Novosibirsk, Tjumen, Chabarovsk und auf Sachalin im Rahmen von Forschungsprogrammen der Programa de Estudios Rusos, Universidad Autonoma de Madrid und des Pacific Rim Program der University of California in Kooperation mit folgenden Institutionen durchgeführt habe: Russische Soziologische Gesellschaft; Institut für Wirtschaft und industrielle Ingenieurwissenschaften des Sibirischen Zweiges der Russischen Akademie der Wissenschaften und Zentrum für Fortgeschrittene Soziologische Studien am Jugendinstitut in Moskau. Vier große Forschungsprojekte habe ich jeweils gemeinsam mit O.I. Škaratan, V.I. Kulešov, S. Nataluško bzw. mit E. Kiselyova und A. Granberg geleitet. Einzelverweise auf jedes Forschungsprojekt werden in den Fußnoten zu jedem Thema gegeben. Ich danke all meinen russischen Kolleginnen und Kollegen für ihre entscheidenden Beiträge für mein Verständnis der Sowjetunion, aber ich entlaste sie ganz gewiss von jeglicher Verantwortung für meine Fehler und meine persönliche Interpretation unserer Ergebnisse. Die zweite Art von Informationen, auf denen dieses Kapitel aufbaut, bezieht sich auf Dokumente, bibliografische und statistische Quellen, die in erster Linie von Emma Kiselyova gesammelt und analysiert worden sind. Ich möchte mich außerdem für die gründlichen und detaillierten Bemerkungen bedanken, die Tatjana Zaslavskaja, Gregory Grossman und George Breslauer zum Entwurf dieses Kapitels gemacht haben.

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© 2003 Leske + Budrich, Opladen

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Castells, M. (2003). Die Krise des industriellen Etatismus und der Zusammenbruch der Sowjetunion. In: Jahrtausendwende. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-99676-3_1

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  • Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden

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