Zusammenfassung
In der euroamerikanischen Kultur hat das Immunsystem heute eine hervorragende Bedeutung in Fragen zu Gesundheit und Krankheit, zu Leben und Tod, zu Überleben und Vernichtung. In einer jährlichen Veröffentlichung der Encyclopedia Britannica, die ihre mehr als fiinfzigbändige Publikation „The Great Books of the Western World“ ergänzen und auf den neuesten Stand bringen soll, wird das Immunsystem als eine der „großen Ideen“ genannt. In der 1991 er Ausgabe von „The Great Ideas Today“ war der Leitartikel mit „The Biology of Immune Responses“ überschrieben. Verfasst von Michael Edidin ist dieser Aufsatz nur einer von zwei Beiträgen, die ein (natur-) wissenschaftliches Thema behandeln; er erscheint etwas fremd unter all den anderen Aufsätzen zu modernem Tanz, Multikulturalismus, Musik als liberaler Kunst, Theologie und so weiter. Edidin beginnt seinen Aufsatz mit einem eindringlichen Bild:
Die Festung von [A-kur] Acre erhebt sich aus dem Mittelmeer vor der israelischen Küste. Sie beeindruckt durch ihre kunstvolle und prächtige Bauweise. Die großen Steinmauem zur See hinaus werden durch Türme überragt, die Innenhöfe durch Bogengänge verbunden. Diese Festung präsentiert die Geschichte dieser Region. Ihre ältesten Teile, mittlerweile vom Meer oder Land teilweise verdeckt, waren von den Kreuzrittern gebaut und später von den Türken ausgebaut, erweitert und modernisiert worden. In Bauform und Komplexität erinnert die Festung die Immunologen an einen anderen großen Komplex, der vor Invasion schützt — der Komplex von Organen, Zellen und Molekülen, der als unser Immunsystem fungiert. (1991, S. 2)
Was mag die Herausgeber der Britannica dazu verleitet haben, das Immunsystem als eine der „großen Ideen“ von heute anzusehen? Als ich den historischen Spuren dieses Themas mitsamt seinen vielen zeitgenössischen Zeugnissen nachging, wurde daraus ein großes ethnografisches Projekt, das mich in meinen Feldstudien in Immunforschungslabors, HIV-Kliniken und Selbsthilfegruppen, zu städtischen Nachbarschaften, zur Ortsgruppe von ACT-UP und zu den Übungsstätten einer Fortune 500 Vereinigung führte. Im Laufe dieses Projektes sah ich aus sehr verschiedenen Perspektiven, was es heutzutage bedeutet eine Person zu sein, und auch wie diese verändert wird. Ganz gleichgültig, wie weit meine StudentInnen und ich uns von Immunforschungslabors und HIV/AIDS-Zusammenhängen fort bewegten, wir trafen auf Menschen, die das Immunsystem wirksam einsetzten, um ihre Auffassungen von Gesundheit und Arbeit zu ordnen. Damit hatten sie sich drastisch von dem Gesundheits- und Körperverständnis entfernt, das ein paar Jahrzehnte zuvor noch vorherrschend gewesen war. Dieser Wechsel erfolgt mit gutem Grund: In der von harter Konkurrenz und schnellem Wandel gekennzeichneten Geschäftswelt des späten 20. Jahrhunderts passt dieser Wechsel zu den veränderten Vorstellungen von wünschenswerten — ja überlebensnotwendigen — Eigenschaften von Personen und Arbeitern.
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Literatur
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Martin, E. (2002). Flexible Körper. In: Duden, B., Noeres, D. (eds) Auf den Spuren des Körpers in einer technogenen Welt. Schriftenreihe der Internationalen Frauenuniversität »Technik und Kultur«, vol 4. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-99667-1_2
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