Zusammenfassung
Armut ist ein umstrittener Begriff. Manche schimpfen ihn sogar als „Kampfbegriff“ (vgl. Krämer 2000), während andere just seine skandalisierende Wirkung für den „Kampf gegen Armut“ nutzen. Umstritten ist er, weil die Bezeichnung von Lebensverhältnissen als „arm“, gleichgültig auf welchen Indikatoren dieses Urteil basiert, gesellschaftliche Hilfe und Unterstützung reklamiert und damit Engagement und Eingriff verlangt. Eine Soziologie der Armut, die um Distanzierung und Objektivierung bemüht ist, hat aber die Aufgabe, ein Konzept zu entwickeln, dem diese „armutstypischen“ Eigenschaften weitgehend fehlen; ein Konzept, das beobachtet und analysiert, dabei aber nicht sogleich zu praktischem Handeln drängt. Dem ersten Augenschein nach handelt es sich um eine „contradictio in adjecto“, weil dies nur zu gelingen scheint, wenn die appellierenden Eigenschaften des Begriffs neutralisiert werden. Dann fallen jedoch jene Qualitäten weg, die typisch für die gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen über Armut sind. Da aber die Streitigkeiten darüber, was Armut ist, ein wichtiger Bestandteil des Armutsgeschehens sind, würde sich eine so konzipierte Soziologie der Armut selbst um zentrale Forschungsaspekte bringen. Es soll deshalb hier der Versuch unternommen werden, einen soziologischen Blick auf das Phänomen Armut zu werfen, ohne sich augenblicklich in dieses selbst zu verstrikken oder aber die armutstypischen Eigenschaften zu neutralisieren, weil dann nur ein Teil des Armutsgeschehens betrachtet werden könnte.
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Barlösius, E. (2001). Das gesellschaftliche Verhältnis der Armen — Überlegungen zu einer theoretischen Konzeption einer Soziologie der Armut. In: Barlösius, E., Ludwig-Mayerhofer, W. (eds) Die Armut der Gesellschaft. Reihe „Sozialstrukturanalyse“, vol 15. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-99629-9_2
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