Zusammenfassung
Die Dämonie des Fahrens und des Photographierens — welch genaue Beobachtung all dessen, was wir gemeinhin unter Reisen verstehen: jenes Anrennen gegen die Vergeblichkeit, alles sehen oder irgendwie erfassen zu wollen. Unter dem auferlegten Diktat der Zeit wird nach einer Orientierung gesucht, dem räumlichen und chronometrischen Chaos der auf einen eindringenden Reise durch Markierungen von album- und diawürdiger Details zu entgehen. Gestatten sie doch — wie einst den Schreibern von Reisebriefen und -tagebüchern, nur sehr viel flüchtiger und punktueller — das Abenteuer zu domestizieren, sich am Ariadnefaden der Bilder, ihrer Motive und Numerierungen durchs Dickicht des Fremden zu bewegen. So wird das Terrain abgesteckt, das Labyrinthische überwunden und dem Unregelmäßigen, Zufälligen und Rätselhaften das genau Abgemessene, Karthographierte und Strukturierte entgegengestellt. Verschwunden sind die Rätsel und auch das Wagnis, sich Fremdem, Neuem, Ausländischem gar auszusetzen. Noch schwingt im Wortstamm “Ausland” das abgeleitete “Elend” mit, jedoch ein solcher Bezug auf Fuchterregendes, Unbekanntes, ja selbst auf Auslöschung und Tod wird schnell verdrängt durch die Umkehrung: Ausland wird zum Ferien “paradies”, zum vertrauten Areal, scheinbar abseits der “Hölle” des Alltäglichen. Und tatsächlich, wo sich der Reisende des 20. Jahrhunderts auch immer hinbewegt, an die äußersten Küsten oder auf die höchsten Gipfel, er ist zu Hause. Sowohl gegen die Kälte des Nordens wie die Hitze des Südens ist er gewappnet, nichts bleibt dem Zufall überlassen. Die Flut der Reisehilfen gaukelt denn auch vor, er sei keiner dieser Unverständigen und hilflos Umherirrenden, die sich nur lächerlich machen in ihrem Ruch als “Kodak-Imperialisten”. Neln, kein echter Reisender zeichnet sich noch dadurch aus, daß er sein Ziel nicht kennt und etwa glaubt, in Indien anzukommen, wenn er in Wirklichkeit an der amerikanischen Küste vor Anker geht. Denn alles ist längst berechnet, vorausgeplant und gesteuert. Aber schließlich hatte auch die Weltreise bereits beim ersten Mal ihre Unschuld verloren; daß die Exoten und Wilden Projektionen ihrer Mörder sind, das wußten irgendwie schon die Weltreisenden des 18. Jahrhunderts. Und wenn man die letzten Paradiese der Menschheit — so es sie im Zeichen des Massentourismus noch geben kann — besuchen will, glaubt man ernsthaft, daß man mit dem schlechten Gewissen eines Post-Kolonisators und -Parizipanten mehr gesehen hat als die Phantombilder aus diesen Gegenden, die das Fernsehen liefert? Wohl kaum.
Eine größere Anzahl der gezeigten Aufnahmen sind auf jährlichen Ferienreisen im offenen Wagen entstanden... Ich wüßte nicht, was solche Fahrten mehr bereicherte und spannender machte als dies beständige Ausspähen nach Motiven (...). Aber nicht immer ist es leicht, dann auch wirklich den Fuß vom Gaspedal zu nehmen. Nur zu oft steht die Dämonie des Fahrens der Dämonie des Photographierens entgegen.
Ein Leica-Amateur, 1935
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Anmerkungen
Lévi-Strauss 1978, 32.
v. Braun 1989, 18.
ebenda, 30.
ebenda, 32.
Mattenklott 1983, 200.
Kristeva 1990, 16f.
ebenda, 17f.
vgl. Kreidt 1987, 248.
Proust 1967, 1001f.
Bourdieu 1983, 87.
Raulff 1983, 191.
Bourdieu 1983, 49.
Anders 1983, 111.
Mettner 1983, 172.
Holmes 1980, 119.
Borges 1961, 136.
Raulff 1983, 191.
vgl. Baudrillard 1986.
Mattenklott 1983, 207.
Lingau 1989/90, 65.
vgl. Safranski 1990.
Literatur
Anders, Günther: Ikonomanie. In: Wolfgang Kemp: Theorie der Fotografie III, 1945–1980. München 1983, 108-113.
Baudrillard, Jean: Jenseits von Wahr und Falsch, oder Die Hinterlist des Bildes. In: Bildwelten — Denkbilder, hrsg. v. Hans Matthäus Bachmayer, Otto van de Loo, Florian Rötzer. München 1986, 265-268.
Borges, Jorge Luis: Von der Strenge der Wissenschaft. In: ders.: Der schwarze Spiegel. München 1961, 136.
Bourdieu, Pierre: Die gesellschaftliche Dimension der Photographic In: Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie, von Pierre Bourdieu u.a. Frankfurt 1983, 85-109.
Braun, Christina von: Der Einbruch der Wohnstube in die Fremde. In: dies: Die schamlose Schönheit des Vergangenen. Zum Verhältnis von Geschlecht und Geschichte. Frankfurt 1989, 15-35.
Holmes, Oliver Wendell: Das Stereoskop und der Stereograph. In: W. Kemp: Theorie der Fotografie I. 1893-1912. München 1980, 115-119.
Kreidt, Dietrich: Kann uns zum Vaterland die Fremde werden? Exotismus im Schauspieltheater. In: Exotische Welten — Europäische Phantasien. Ausstellungskatalog des Instituts für Auslandsbeziehungen und des Württembergischen Kunstvereins. Stuttgart 1987, 248-255.
Kristeva, Julia: Fremde sind wir uns selber. Frankfurt 1978.
Lévi-Strauss, Claude: Traurige Tropen. Frankfurt 1978.
Lingnau, Jochen J.: Die Entdeckung der Bilder als Lebensform. In: Bildmaschinen und Erfahrung. Hrsg.: BILDO-Akademie, Berlin 1989/90, 51-65.
Mattenklott, Gert: Vorgestellte Reisen — REISEVORSTELLUNG. In: ders.: Der übersinnliche Leib. Beiträge zur Metaphysik des Körpers. Reinbek bei Hamburg 1982, 188-210.
Mettner, Martina: Amateurphotographie. Reisen und Urlaub im Bild des Touristen. In: K. Pohl (Hrsg): Ansichten der Ferne. Reisephotographie 1850-heute. Giessen 1983, 151-184.
Proust, Marcel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Bd.1. Frankfurt 1967.
Raulff, Ulrich: Seh-Komfort. In: K. Pohl (Hrsg.): Ansichten der Ferne, a.a.O., 188-192.
Safranski, Rüdiger: Wieviel Wahrheit braucht der Mensch? Über das Denkbare und das Lebbare. München 1990.
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© 1991 Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen
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Heger, RJ. (1991). Bild-Welten und Welt-Bilder. In: Schäffter, O. (eds) Das Fremde. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-99447-9_11
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